Familiensache

Das Globetrotter Magazin hat Stian Hagen im Rahmen der Arcteryx Winter Film Tour in München getroffen, wo er sein neuestes Werk präsentierte: »The Hagens«. Der Film zeichnet ein wunderbares Portrait seiner vierköpfigen Familie und zeigt, dass die Liebe zum Skifahren definitiv vererbbar ist.

Stian Hagen (49)

Der Norweger konnte schon Skifahren, bevor er Laufen lernte. Er war in Jugendjahren ein Meister sämtlicher Skidisziplinen, einschließlich Skispringen. Mit 19 Jahren widmete er sich mehr und mehr dem Extremskifahren. Als Freeski-Pionier hat er seine Spuren auch in der Sportindustrie hinterlassen und war an einigen wegweisenden Entwicklungen beteiligt. Der Bergführer lebt in Chamonix, hat aber nie seine Wurzeln vergessen. So konzipierte er die »Jotunheimen Haut Route« für den Norwegischen Alpenverein, heute die beliebteste Skitour Norwegens ist. In seiner Freizeit betreibt Stian zahlreiche Hobbys – vom Fotografieren bis Fallschirmspringen. Am glücklichsten ist er, wenn er mit seiner Frau Andrea und den beiden Kids unterwegs ist und ihnen zeigt, den Moment zu genießen.

Wie kommt ein Norweger nach Chamonix?

Ältere Freunde von mir haben mich »angelockt«. Und so bin ich 1994 nach Ende der Schule erstmals für einen Winter nach Chamonix gekommen. Mit 1000 Euro in der Tasche und vielen Jobs habe ich einen ganzen Winter dort geschafft und war sofort verliebt: in den Ort, das Tal und vor allem die Berge.

Stian, du bist einer der dienstältesten Freeride-Profis überhaupt. Was motiviert dich heute noch, das Gaspedal so zu pushen?

Heute drücke ich das Gaspedal nicht mehr bis aufs Metall durch. Aber ich liebe Skifahren noch so wie am ersten Tag. Diese Flamme wird nie erlöschen. Ich liebe jeden Tag in den Bergen und die permanente Suche nach der perfekten Abfahrt hört nie auf. Die perfekte Abfahrt selbst gibt es natürlich nicht jeden Tag, doch wenn alles passt, der Schnee, die Freunde, das Wetter, dann gibt es nichts Schöneres auf der Welt.

Immer wieder kommen Extremskifahrer bei ihren kühnen Projekten ums Leben. Jüngst hat es den Franzosen Tof Henry in Chile erwischt. Wo ziehst du deine Grenze?

Ich bin längst nicht mehr willens, voll ins Risiko zu gehen. Je länger man exponiert in den Bergen unterwegs ist, desto größer die Chance, dass etwas unerwartetes passiert. Ich habe im Laufe der Jahrzehnte schon einige Freunde an die Berge verloren, doch mit Kindern ist es für mich definitiv keine Option, eines Tages nicht mehr nach Hause zu kommen. Zum Glück geht mit dem Älterwerden auch eine gewisse Erfahrung einher. Früher habe ich immer alle Karten gespielt, egal ob Bube, Dame, König oder Ass – heute freue ich mich über eine Neun.

Du hast auch drei Jahrzehnte Ausrüstungsentwicklung an vorerster Front miterlebt. Was waren die größten Gamechanger?

Da gibt es eine ganze Menge im Vergleich zu Anfang der 90er. Das erste waren die breiteren Ski mit Rocker-Shape. Damit wurde das Tiefschneefahren für die breite Masse der Skifahrer möglich. Dann kamen die Pin-Bindungen mit ihrer Leichtigkeit und dem tiefen Schwerpunkt für ein effizienteres Bergaufgehen. Und auch die Funktionsbekleidung ist heute leichter und besser. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich das Gewicht der Ausrüstung in meinem Rucksack sicherlich halbiert. Das bedeutet längere Tage in den Bergen bei weniger Anstrengung – und ich kann in Ruhe sinnieren, was es noch zu verbessern gibt. Während andere nämlich ergriffen von den Bergen in die Weite starren, schaue ich als Gearnerd genau auf meine Ausrüstung und die der anderen. Ist dieser Reißverschluss da an der richtigen Stelle oder wäre es nicht besser, ihn fünf Zentimeter tiefer zu platzieren?

Und was hat sich zum Glück nie etabliert?

Ich bin bei Völkl in der Ski-Entwicklung und da haben wir auch viele unmögliche Formen ausprobiert, die schlicht unfahrbar waren. Ein Ski etwa hatte die Form einer Banane.

Hast du schlaflose Nächte bei dem Gedanken, dass deine Kids mal ohne euch zum Freeriden gehen?

Nein. Klar kann man seine Kinder auch in Watte packen und vor dem TV parken, um das Risiko zu minimieren, doch ich setze auf Risikovermeidung durch Bildung. Wir unterrichten sie gründlich in allen Belangen, die beim Freeiden wichtig sind. Sie wissen heute schon soviel mehr als ich damals. Mit 18 erstmals in Chamonix hatten wir noch nicht einmal einen Lawinenpiepser.

Musstest du deine Kinder zum Skitourengehen motivieren?

Sie hatten immer schon Freude an der Bewegung in den Bergen. Aber das Skitourengehen haben wir bewusst ganz langsam begonnen – mit einer Skitour rund um unser Haus. Mein Tipp daher: »start small«. Und mach bloß nicht den Fehler und übertrage deine eigenen Ambitionen auf deine Kinder. Lieber gehst du ab und an mal alleine los und hast dann viel mehr Muße für die »familytime«.

Was empfiehlst du Flachland-Tirolern, die ihre Kids ebenfalls vom Skifahren begeistern wollen?

Bring sie an den Start und lass sie Erfahrungen sammeln. Ganz ohne Druck und mit ihrem Tempo und nach ihren Regeln. Wir beobachten hier in Chamonix oft, wie Winterurlauber ihre Kids mit teuren Leihski und teurem Skipass ausstatten und dann aber darauf bestehen, dass dieser auch ausgefahren wird, egal wie widrig das Wetter und schlecht die Sicht.

Mit einem einmaligen Lawinenkurs ist es oft nicht getan. Welche Lektionen sollten Freerider lernen?

Geduld. Geduld ist der Schlüssel für ein langes Leben in den Bergen. Oft scheint der Tag perfekt, aber das Gefühl im Bauch stimmt nicht. Dann lass es sein und komm’ an einem anderen Tag wieder.

Ist es heute leichter oder schwerer, eine Karriere als Freeride-Profi zu starten?

In jedem Fall ist es anders. Früher musste man einfach der beste Skifahrer sein. Heute muss man darüber hinaus auch noch Kameramann, Cutter und Social-Media-Profi sein. Damals lieferten sich Ski- und Snowboardmarkt einen ordentlichen Konkurrenzkampf und die Budgettöpfe fürs Marketing waren prall gefüllt. Andererseits entscheidet heute kein Redakteur mehr, ob dein Foto gedruckt wird oder nicht – dass veröffentlichst du auf Insta einfach selbst.

Die schönste Abfahrt deines Lebens?

Letzten Sonntag. Oder wird es die morgen sein? Grundsätzlich bin ich immer begeistert, wenn ich auf Skiern stehe. Müsste man jedoch eine konkrete benennen, ist es das North Face an der Aiguille du Midi, welches ich 1995 erstmals gefahren bin. Ich kann die Wand von meinem Haus aus sehen.

Und wo musst du unbedingt mal hin?

Ich war überall dort, wo ich jemals hinwollte, und habe alles gesehen, was ich jemals sehen wollte. Aktuell liebe ich es, in Chamonix zu leben und nach den tollsten Touren abends im eigenen Bett einzuschlafen. Unbezahlbar ist auch das lokale Wissen. Wenn es hier schneit, weiß ich genau, wann ich wo sein muss, um den besten Schnee zu haben. Das ist ein Privileg, das keine Reise wett machten kann.

Rechnest du deine Höhenmeter pro Saison zusammen?

Nicht wirklich. Ich führe kein Tagebuch, aber je nach Schnee sind es sicher 50.0000 bis 100.000 Höhenmeter. Zu Covid-Zeiten waren es sogar 120.000.

Ab sofort gibt es den Film kostenfrei bei Youtube …

Dort, auf dem Arc’teryx-Kanal, findet ihr zudem viele weitere Stunden beste Unterhaltung aus der Welt des Bergsport.


TEXT: Michael Neumann

FOTOS: Archiv Arcteryx

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