Lustwandern auf dem Malerweg

So schön kann Deutschland sein – unterwegs auf dem preisgekrönten Malerweg und seinen verwegenen Umwegen.

Ralf Gantzhorn

Na, darf’s noch ein Eibauer sein?« Frau Schubert, die nette Wirtin der »Hocksteinschänke« lächelt mich freundlich an und ich kann nicht widerstehen. Schließlich habe ich mir das zweite Schwarzbier heute auch redlich verdient. Wir sitzen nach einem deftigen Mahl auf der Terrasse vor dem Gasthaus und relaxen in der Abendsonne. Die zweite Etappe des Malerwegs, die wir aus logistischen Gründen als Rundtour gelaufen sind, ist geschafft. Aus den Feldern vor dem Lilienstein steigen erste Nebel auf und die Silhouette dieses riesigen Tafelberges scheint wie ein steinernes Schiff im Wolkenmeer über der Landschaft zu schweben. Welch wohltuende Ruhe liegt in dieser Stimmung. Eine Ruhe, die wir beim heute erledigten Wanderpensum vermissen mussten, aber auch nicht erwarten durften. Ich hatte Christiane und Klaus, den beiden Elbsandsteinneulingen, den Klassiker versprochen – die Bastei mit dem millionenfach fotografierten Blick ins Elbtal, das Bild, das in keinem Deutschlandbildband fehlen darf und ja wohl auch zur Allgemeinbildung gehört.

Wir sind durch den Basteiwald Richtung Wehlgrund gebummelt – und wenig später dann einer dieser typischen Landschaftswechsel der Sächsischen Schweiz: eben noch harmloses Schlendern durch frucht­bare Felder und herbstlichen Buchenhain und plötzlich, ohne Vorwarnung – bäääm! –, der schwindelerregende Blick von einem Felsplateau in einen unergründlich tiefen Schlund, der von bizarren Wetterfichten, Birken und Heidekraut gesäumt wird. Meine beiden Begleiter fassen sich zögernd bei der Hand, wagen sich gemeinsam noch einen Schritt nach vorn und sind sichtlich beeindruckt. »Mein Gott, ist das romantisch!«, seufzt Christiane. »Wart’s nur ab, gleich geht’s hinab in so einen grausigen Schlund!«, droh­e ich scherzhaft und schon stehen wir vor dem Abstieg in die Schweden­löcher, bei denen man heute aber viel Fantasie aufbringen muss, um sich vorzustellen, dass hier einst im Dreißigjährigen Krieg die Bewohner der umliegenden Dörfer Schutz vor den Truppen des Schwedenkönigs Gustav Adolf gesucht haben. Heute sind hier nämlich ganze Horden japanischer Touristen unterwegs, die die schummrigen Spalten mit ihrem Blitzlicht-Sperrfeuer unter Beschuss nehmen.

Caspar David Friedrich machte das Elbsandstein mit seinen Bildern weltberühmt.

Vom beschaulichen Amselsee geht’s dann schließlich über die endlosen Stufen hinauf Richtung Bastei. Kurz bevor wir die Felsenburg Neurathen erreichen, machen wir einen Abstecher nach links durch das Felstor am Tiedgestein und genehmigen uns den ersten gewaltigen Tiefblick auf die Elbe. Und, oh Wunder: Wir sind allein. Hier beginnt hinter dem Geländer, das den schaudernden Wanderer vor dem Sturz ins Verderben bewahren soll, ein ausgesetzter Steig, der zu Füßen der Basteiwände Kletterer in höchster Exposition zur Vehmhöhle und zum Wartturm leitet. Doch er ist gewiss nichts für schwache Nerven, und an Christianes geweitete­­n Pupillen sehe ich, dass es angeraten ist, auch weiterhin auf sicheren Pfaden zu wandeln. Also die letzten Stufen hinauf, sich wacker gegen internationalen Gegenverkehr stemmend, und hinein ins Gedräng­e auf der Basteibrücke. Und obwohl einen die Szenerie dort eher ans Italienerwochenende beim Oktoberfest erinnert, ist das alles großartig, schaurig-schön, beeindruckend luftig, abgrundtief-gruselig und, wie Christiane alsbald bemerken sollte, »… total romantisch!«. 

»Beeindruckend, nisch woar?« Der ältere Herr neben uns ist unüberhörbar Sachse. Und unverkennbar stolz. Ob wir wussten, dass die Basteibrücke anno 1851 als erstes Bauwerk Europas nur für Touristen gebaut wurde? Wussten wir nicht. Aber seit wir hier oben stehen und den Blick genießen, verstehen wir, warum sie bis heute als DAS Wahrzeichen des Elbsandsteingebirges gilt, jener Landschaft, die spätestens mit Caspar David Friedrichs berühmtem Gemälde »Wanderer über dem Nebelmeer« zum Inbegriff der Romantik wurde.

Sandstein meets Via Ferrata

Das zweite Eibauer steht inzwischen vor mir. Klaus, der schon beim dritten ist, macht Frau Schubert noch rasch ein verdientes Kompliment für ihre legendären Bratkartoffeln. »Morgen gibt’s mehr Ruhe«, versprech­­e ich, »und (mit einem kleinen Seitenblick auf Christiane) Romantik pur!«

Deutlich weniger überlaufen präsentiert sich die Landschaft an den großartigsten Felsmassiven der Sächsischen Schweiz, den Affensteinen und den Schrammsteinen. Bis zu 150 Meter ragen die erschreckend steilen Felsbastionen über den sogenannten Gründen auf, ein mit Wald bewachsenes »Monument Valley«. Wir wollen auf dieser Etappe des Malerwegs einen Umweg über das vielleicht spannendste Wegstück in deutschen Mittel­gebirgen nehmen: die Obere Affensteinpromenade, die sich über anderthalb Kilometer auf halber Höhe mitten durch die Zinnen und Türme der Affensteine schlängelt. Normalerweise nähert man sich ihr ganz zahm über die Untere Affenstein­promenade, aber wir haben uns von den sächsischen Freikletterern inspirieren lassen und wollen auch ein wenig klettern. Nicht mit Seil und Reibungskletterschuhen zwar, aber immerhin auf der Häntzschelstiege, einem ganz schön ausgesetzten Klettersteig. Er stößt von unten auf die Obere Affensteinpromenade, und wer zu Höhenangst neigt, muss sich für die Häntzschelstiege entweder ganz schnell heilen lassen oder auf eine Viertel­stunde Horror einstellen. In einer Serie von Leitern, Metallklammern und Drahtseilen führt der Weg kühn hinauf. Wer oben auf der Promenade noch nicht genug hat, der steigt gleich weiter aufs Lange Horn, eine markante dreigeteilte Grupp­e senkrecht aufragender Türme. Da bleibt dann auch einem alpenerprobten Kletterer wie mir die Luft weg. Zunächst gilt es an das hinterste Ende einer dunklen und feuchten Schlucht zu gelangen, anschließend führen Metallsprossen senkrecht bis über­hängend über 20 Meter aus einem engen Kamin hinaus. Fluchend muss ich erkennen, dass es dort mit einem Rucksack am Rücken und einer Kamera um den Hals weder hoch noch –immerhin beruhigend – runter geht. An einer Hand hängend sehe ich schon meinen Namen auf einer Gedenktafel »sponsored by Nikon« am Fuße der Felsen verewigt, als es endlich ein hässliches Geräu­sch macht und ich mich doch noch zum Aussichtspunkt zwängen kann. 

Schwer beeindruckt von der sächsischen Version einer »Stiege« steigen wir hintenrum auf die Obere Affensteinpromenade, der wir nun nach Osten folgen. Im steten Auf und Ab wandern wir so auf halber Höhe von einem Felskessel zum nächsten. Mal faszinieren die steilen Wände mit ihren skurrilen Strukturen über uns, mal gestattet der lichte Misch­wald atemberaubende Tiefblicke auf die vorgelagerten Türme unter uns. Ein harmonisches Chaos aus dunklem Sandstein und der sich darin in den abenteuerlichsten Varianten festkrallenden Vegetation. 

Nicht lange und wir kommen zur Idagrotte am Frienstein. Sie ist so groß, dass sie im Mittelalter als Behausung genutzt wurd­e. Heutzutage sind Höhlen als Dauerbehausung auch in Sachsen aus der Mode gekommen, willkommen sind sie jedoch als festes Dach über dem Kopf beim Wandern. »Boofen« nennt der gemeine Sachse das Übernachten unter Felsen, eine weitere liebenswerte Tradition, die sich auch in Zeiten von Flächenausgleichs­regelungen und den damit einhergehenden Zugangsbeschränkungen nicht hat verbieten lassen. Das sieht auch die Nationalpark-Verwaltung so: »Als Ausnahme und in Anerkennung der Tradition aus dem Sächsischen Klettersport ist es an 58 gekennzeichneten Freiübernachtungsstellen (Boofen) möglich, im Freien zu übernachten, wenn dies im Zusammenhang mit der Ausübung des Felskletterns geschieht. Alle offiziellen Boofen sind als solche gekennzeichnet.« Wanderer schlafen also besser weiterhin im warmen Pensionsbett.

Ein Wandermärchen

Für unseren dritten Tag haben wir uns eine Variante der fünften Etapp­e des Malerwegs rausgepickt. Und zwar rückwärts. Denn das ist einer weiteren der Pluspunkte des schönsten deutschen Weitwanderweges: Man kann ihn in Etappen gehen, in beide Richtungen, sich die Rosinen rauspicken und je nach Zeitpolster auch Abstecher links und rechts des Weges einbauen. Ich betrachte den Malerweg schon seit Jahren eher als roten Faden mit einigen Schleifen denn strikte Strecke, an deren Ende die Sächsische Wandernadel winkt. 

Dieser Tag führt uns dann tatsächlich in den abgelegenen, märchenhaft ruhigen Teil der Sächsischen Schweiz. Ausgangsort ist Schmilka an der tschechischen Grenze, wo seit dem Wegfall der Grenzkontrollen nun keine kilometerlangen Schlangen mehr stehen – die findet man jetzt vor den Tankstellen und Ramschbuden ein paar Kilometer fluss­aufwärts. Über den Wurzelweg geht es zunächst ganz schön steil bergan, so dass Klaus schon zu stöhnen beginnt. Nachdem wir in den Falkonier­grund abgebogen sind, tauchen wir dann vollends ein in die verwunschene Welt der Felsenwälder. Links die schlanken, über ­40 Meter hohen Falknertürme, Reviere der Felskletterer, die hier schon seit über 100 Jahren ihren faszinierenden Sport ausüben. Dahinter als Kulisse der gewaltige Rauschenstein, gar 80 Meter hoch, mit seinem Trabanten, dem Winklerturm, der keck wie eine Haifischflosse aus dem Wäldermeer ragt.

»Erinnert ihr euch an die alten tschechischen Märchenfilme?«, fragt Christiane. »Genau so sieht’s hier aus!« Wir geben ihr recht, und während wir uns noch ausmalen, wie da vorn hinter dem moosbepelzten Felsblock gleich König Drosselbart auftaucht, stehen wir am Beginn der Rotkehlchenstiege. Die fordert unsere volle Konzentration: Im unteren Teil mit hölzernen »Hühnerleitern« beginnend, bei denen wir schon mächtig aufpassen müssen, dass wir immer genau auf die Sprosse­­n und nicht auf die Luft dazwischen treten, führt sie im oberen Teil über steinerne Stufen und Absätze hinein in eine wunderschöne verwinkelte Welt aus kleinen Schluchten und Terrassen, die immer wieder überraschende Fernblicke in den großen Schmilkaer Felskessel mit seinen hundert Felstürmen und hinüber zum Zirkelstein bieten, der über den weiten Flächen am linken Elbufer thront wie eine Ritterburg auf einer Modellbahnlandschaft. Ein ums andere Mal bleiben wir stehen und lassen uns mit vor Staunen offenen Mündern von dieser Fabelwelt verzaubern. »Spart euch ruhig noch ein bisschen von eurer Begeisterungsfähigkeit auf«, rate ich, denn ich weiß, dass die gleich am Carolafels noch richtig gebraucht wird. Und tatsächlich: Kaum sind wir dort am höchsten Punkt angekommen, gerät sogar der sonst eher nüchterne Klaus ins Schwärmen: »Boah, ein Bild wie von Caspar David Friedrich gemalt! Unglaublich schön!« Zu unseren Füßen der Kessel des Großen Doms mit dem Domwächter, im Hintergrund die Schramm­steine und der alles beherrschende 100 Meter hohe Falkenstein, dazwischen geradezu transsilvanische Wälder – und wir ganz allein mittendrin. Wir verträumen hier oben fast zwei Stunden, so dass ich schließlich zum Aufbruch drängen muss.

Denn der Weg zum Großen Winterberg, unserem nächsten Etappenziel, ist noch weit. Doch da oben steht ein Gasthaus und Klaus hat schon wieder Hunger, also müssen wir ihn nicht besonders motivieren. Vorbei an beeindruckenden Aussichtspunkten bummeln wir durch lichte Blaubeerwälder, vorbei an »Fluchtwand« und »Wenzelwand« und schließlich hinauf zum mit 552 Metern höchsten Punkt unserer heutigen Wanderung. Wenig später schon studieren wir die Speisekarte des gemütlichen Gasthauses und füllen die Glykogen- und Flüssigkeitsspeicher mit leckeren Krautnudeln und frischem Weizenbier wieder auf. Das Gasthaus auf dem Großen Winterberg ist eins von zahlreichen alten Gasthäusern in der Sächsischen Schweiz, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für den einsetzenden Tourismus errichtet wurden und die schon damals über ein erstaunlich gut ausgebautes Wegenetz miteinander verbunden waren. Wer es sich leisten konnte, mietete standesgemäß einige Sänftenträger und konnte so die ganze Schönheit ohne eigenes Schweißvergießen genießen. In Anbetracht meiner kaputten Knie wünsche ich mir jetzt auch eine solche herbei, doch es hilft nichts, wir müssen selber ran. Und zum Glück haben wir ja auf den gut 400 Höhenmetern Abstieg zur Elbe die Schwerkraft auf unserer Seite. Zu guter Letzt wartet an der »Kipp­hornaussicht« ein weiterer bildbandbewährter Aussichtspunkt mit DEM schönsten Fernblick des Elbsandsteingebirges auf uns. Hier stimmt einfach alles: der Fluss, die Felsen, die Wälder – perfekt. Nach ein paar Minuten andächtigen Schweigens fasst Christiane die Vollkommenheit des Ausblicks und der überwältigenden Stimmung für uns zusammen: »Kinder – romantisch, einfach wildromantisch!« Und ich überlege, ob ich nicht von Fotograf auf Maler umschule.

Text: Ralf Gantzhorn und Michael Neumann