Anfang Juli war ich also daheim in Oberaudorf in den Zug gestiegen. Es folgten vier aufregende, unbequeme, aussichtsreiche und teils anstrengende Reisetage. Aufgrund des Klimawandels kann ich es nicht mehr vertreten, eine Flugreise zu unternehmen. So habe ich mich für die Reise auf dem Landweg entschieden. Mit dem großen Mehrwert, durch diese langsamere und bewusstere Fortbewegung ein wirkliches Verständnis für die Distanz zwischen meiner Heimat und dem Ort meiner Tour zu gewinnen. Und mit viel Zeit, um aus dem Busfenster zu gucken und die ungarische, serbische, bulgarische, türkische und georgische Landschaft vorbeiziehen zu sehen. Als ich schließlich an meinem Startpunkt, in Lagodekhi an der Grenze zwischen Georgien und Aserbaidschan angekommen war, verzögerte ein wilder Sturm mit sintflutartigem Regen und wütenden Gewittern meinen Aufbruch um ein paar Tage. Umso erfüllter von Glück war ich, als ich endlich über die Baumgrenze hinaustrat und ich die unendliche grüne Weite des Kaukasus tief einatmen konnte. Die Landschaft war genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Nur dass es viel tiefgreifender war, sie vor Ort mit allen Sinnen zu erleben. Man möchte wie der Wind sein, um die blühenden Wiesen streicheln zu können und die grünen Grate entlangzuhuschen. Man möchte eine Brise sein, um die Oberfläche der kleinen Seen, die wie Augen der Erde eingebettet liegen, zum Kräuseln zu bringen.
Die weitgehend unberührte Region des Lagodekhi Nationalpark, in dem ich hier unterwegs war, steht unter striktem Naturschutz. Die Leidenschaft und Konsequenz, mit der man im Nationalparkzentrum von der eindeutigen Priorität von „conservation over tourism“ spricht, ist beeindruckend. Tatsächlich wurde seit Gründung des Parks keine zusätzliche Infrastruktur am Berg geschaffen. Nach wie vor gibt es nur vier gekennzeichnete Wanderwege. Aber auch hier lauern Gefahren für die Natur: Es gibt große Probleme mit lokalen Wilderern, die sich gut auskennen. Als ich mich gegen Ende der ersten Woche entlang eines kaum sichtbaren Pfades durch das Dickicht im Wald schlug, traf ich auf zwei der unsympathischen Gesellen. Ein paar Schritte weiter markierte ich ihren Standort auf dem GPS-Gerät und sobald ich wieder Netz hatte, rief ich im Nationalparkhaus an und berichtete von meiner Begegnung. Was dann begann, nennen die Ranger im Nationalpark eine „Razzia“. Und tatsächlich: Ein paar Tage später konnten sie die beiden verhaften. Nur ob es zu einer Verurteilung kommt, war unklar. Sie hatten ihre Waffen versteckt und so ist es schwierig, ihnen etwas nachzuweisen. Man versprach, mich über die Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten.
Vor meiner Etappe von Omalo nach Shatili machte ich zwei Tage Pause. Das ist untypisch für mich, denn ich mag auf meinen Solotouren die Freiheit konstant in Bewegung zu bleiben zu können. Aber dieses Mal war alles anders als sonst. Der Grund dafür war in der zweiten Woche meiner Durchquerung etwa sieben Zentimeter groß und machte mich sehr glücklich. Ich war im vierten Monat schwanger. Ich weiß aus Erfahrung: unterwegs kommt es immer anders, als man vorher denkt. Aber dieses „anders“ veränderte einfach alles. Denn natürlich konnte ich die Durchquerung nicht in der Art und Weise durchführen, wie ich es geplant hatte. Ich ließ die Gipfel weg, da war die Luft zu dünn für mein Baby. Ich konzentrierte mich also auf niedrigere Wege. Bald war klar, dass schon ab 2.300 Metern meine messbare Sauerstoffsättigung immer so deutlich sank, dass ich absteigen musste. Denn für das Baby war das Risiko von zu wenig Sauerstoff potenziell sehr groß, selbst wenn ich selbst davon nichts merkte. Wenn ein Fötus über zwei Stunden zu wenig Sauerstoff bekommt, wird sein Gehirn nicht ausreichend versorgt und es kann zu permanenten Schäden kommen. Das hätte ich mir natürlich nie verziehen. Insgesamt war ich noch defensiver unterwegs, viel meiner Aufmerksamkeit ging nach innen und was da passierte, entschied über meine äußeren Handlungen. Aber ich war gut vorbereitet, auch auf die anderen Umstände. Ich habe im Vorfeld großartige Beratung von Höhenmedizinerinnen erhalten und meine Frauenärztin hat mich von Anfang an in der Entscheidung, die Tour nicht abzusagen, bekräftigt. Die Hauptsache war: Es geht mir gut, es geht dem Kind gut, ich bin gesund und ich fühle mich Woche für Woche fitter.
Auf Georgisch heißt schwanger „orsoli“ und das bedeutet „zwei-seelig.“
Das machte mir Mut.
Und glücklicherweise bietet der Hohe Kaukasus auch in seinen niedrigeren Regionen eine große Vielfalt an Wegen und Möglichkeiten für zauberhafte Entdeckungen. Ich erweiterte mein Spektrum und wollte nun neben Trekkingrouten auch Canyons und Flüsse, Burgen, Klöster und Dörfer erkunden. Ich lernte mehr von den Menschen über das Land und konnte auf all diesen Wegen immer tiefer in das Reich eintauchen, das der Kaukasus zwischen den Welten entfaltet.
Die steile Fahrt nach Omalo – auf der legendären „gefährlichsten Bergpassstraße Georgiens“ – war gar nicht so schlimm. Wahrscheinlich lag das daran, dass wir mit dem wohl besten lokalen Fahrer unterwegs waren, und daran, dass das Wetter uns und der Straße hold war, und daran, dass wir das Glück hatten, keinen schwer beladenen LKWs auf der Gegenrichtung zu begegnen… Aufregend war es aber allemal, und zudem sehr beeindruckend. Da waren wir dann doch recht müde, als wir in Dartlo, dem kleinen Dorf nord-westlich von Omalo ankamen. Wir sind auf dieser Etappe zu dritt. Denn begleitet werde ich hier ein paar Tage lang von meiner 73-jährigen, fröhlich-frisch-fitten Mutter, deren Freude über jede Wolke mal wieder total ansteckend ist. In mir trage ich mein ungeborenes Kind, das inzwischen etwa 10 Zentimeter lang ist und damit angeblich die „Größe einer Grapefruit“ erreicht, womit für mich die Obstvergleiche in der Schwangerschafts-App einen absurden Gipfel erreichen und ich gleichzeitig unbändige Lust auf Grapefruit bekomme… Naja, und dann bin da noch ich selbst, der nun nicht nur die Schwangerschaft, sondern auch die drei Wochen Draußen-Sein langsam anzusehen sind, wie mir der erste Blick in den Spiegel seit langem heute bestätigt hat.
Melancholische Lieder Am Morgen saß vor dem von Gastgeberin Salome liebevoll eingerichteten „Guest House Shuni“ eine Gruppe Menschen im Kreis um einen kleinen Holztisch. Es wurden überall farbenfrohe Vasen mit Bergblumen befestigt und Unmengen Gemüse geputzt und geschnitten. Denn an demselben Tag war in Dartlo ein wichtiges Dorffest und schon vormittags waren alle in feierlicher Laune. Eine junge Frau nahm eine Panduri, eine Art Laute, und zu ihren Klängen begann sie gemeinsam mit Salomes Schwester wunderschön zu singen. Die ganze Stimmung war so voll Wärme und Freude und gleichzeitig voll Melancholie und Sehnsucht, dass wir noch eine ganze Weile blieben und lauschten. Als wir unseren Aufbruch schließlich nicht mehr verzögern konnten, begleiteten uns die erlebten Eindrücke wie ein wertvoller Schatz auf unserem Weg. Die nächsten Tage waren geprägt von grünen Tälern und sprudelnden Bächen, von geheimnisvollen mittelalterlichen Ruinen und einer unendlichen Vielfalt an Bergblumen. Wir sahen Paare, die ohne Sattel auf galoppierenden Pferden mit dem Wind um die Wette jagten, wir flohen selbst vor spektakulär sich auftürmenden Gewitterwolken von einem Grat ins Tal hinunter und wir lernten von herzlich lächelnden georgischen Großmüttern, wie man Chinkali, die hier sehr beliebten gefüllten Teigtaschen, faltet. Insgesamt kam ich auf dieser Etappe auch mit dem Herzen in Georgien an. Ich erlebte die Kontraste hier als ein heterogenes großes Ganzes, das sich auf ureigene Art zu einem stimmigen Bild fügt, das man nur als einzigartig Georgisch beschreiben kann.
Etwa auf der Hälfte meiner Route liegt der majestätischen Vulkanberg Mount Kasbek (georgisch: Eisgipfel). Mit seinen 5.047 Metern ist er der dritthöchste Berg Georgiens und der achthöchste des gesamten Gebirges. Ein wichtiger Aspekt, der mich schon lange an diesem großen Gebirge faszinierte, ist seine Bedeutung in der von mir sehr geliebten griechischen Mythologie. Unterwegs in der noch heute hier zu findenden Weite und Wildnis fiel es mir leicht, mir die gewaltigen Geschichten und dramatischen Zusammenhänge aus der Welt der Titanen und Götter vorzustellen. An den Gipfel des Kasbek wurde laut den Überlieferungen einst der unsterbliche Titanensohn Prometheus gefesselt. Prometheus, ein Freund der Erde und aller darauf lebenden Wesen, hatte den Göttern das Feuer geraubt und es den Menschen gegeben. Götterfürst Zeus, bekannt für seine drakonischen Strafen, ließ ihn daraufhin von Hephaistos an die sturmumtosten Felsen des Vulkans schmieden. Aber damit nicht genug. Zeus schickte einen Adler, der jede Nacht von seiner tagsüber immer wieder nachwachsenden Leber naschte. Die unermesslichen Leiden des Helden dauerten über 30.000 Jahre, bis er endlich von Herakles befreit wurde.
Hier, im Schatten des Kasbek wurde ich für ein paar Tage von meiner Freundin Franzi begleitet. Sie kommt aus Deutschland, lebt aber in Tiflis. Wir wanderten endlos lang durch Täler und ließen uns von den natürlichen Wundern am Weg begeistern. Wir lagen im Gras, redeten über Gott und die Welt und die Männer. Und wir entdeckten amüsiert die Parallele zwischen den jungen Männern, die hier auf ihren schnellen Pferden immer wieder an uns vorbei jagten, und den Halbstarken auf Mopeds in unseren bayerischen Heimatdörfern. Zunächst erkundeten wir dabei die Gegend um Juta, und ich war anfangs noch überrascht, wie viele bunt gekleidete Leute hier auf einmal unterwegs waren. Besonders rund um das geradezu luxuriös anmutende Zeta Camp oberhalb von Juta tummelten sich die (Berg-)Touristen, und es wurde deutlich, dass die Region diesbezüglich weit erschlossener ist als alles, wo ich im Kaukasus bisher war. Freilich, im Vergleich zu den Alpen sind es immer noch wenige Gäste. Im Städtchen Stepanzminda (Kazbegi) am Fuße des Kasbek herrscht auch seitens der Einwohner ein anderer Ton. Hier weiß man um das Geschäft, das Touristen bedeuten. Überall wurde uns die Fahrt hinauf zur berühmten Gergeti-Kirche angeboten. Dabei dauert der Fußweg nicht mehr als eine knappe Stunde und ist wunderschön. Als wir am nächsten Tag die Anhöhe bei der Kirche erreichten und in Richtung Kasbek schauten, hüllte sich sein Gipfel weiterhin in Wolken. Hartnäckig, wie solch stolze Berge oft sind, bewahrte sich auch der Kasbek sein Geheimnis und erlaubte mir nicht einmal einen flüchtigen Blick auf seine Krone. Ich nahm es symbolisch und dankte ihm innerlich. Denn mit seiner Verhüllung linderte er doch die mich noch immer zwickende Enttäuschung, dass ich seinem Gipfel in diesem Jahr keinen Besuch abstatten konnte.
Wir flohen schnell zurück in die Natur und durchwanderten das Truso-Tal. Rückblickend muss ich sagen, dass das zu den landschaftlich schönsten Erlebnissen auf der Tour durch den Kaukasus gehört. Das lag besonders an den vielen Farben entlang des Weges. Das orange leuchtende vulkanische Gestein, die schwefel- und mineralhaltigen, strahlend blau blubbernden Seen und das saftige Grün der Wiesen, ließen uns unterwegs oft einfach staunend stehenbleiben und hinterließen bleibende Eindrücke.
An der Grenze zur Republik Südossetien, die wir am Ende des Tals erreichten, lag auch die Halbzeit meiner Tour. Ab hier musste ich ein großes Stück des hohen Kaukasus mit dem Auto umfahren, denn in die umkämpfte Region kann man nicht einreisen. Südossetien gehört zwar völkerrechtlich zu Georgien, ist de facto jedoch unabhängig und wird in den Augen der Georgier von Russland besetzt.
Racha ist genau so, wie es klingt: Unwegsam, „zach“ – wie wir in Bayern sagen würden. Verwildert, zerfallen, wunderschön und kaum erschlossen. Racha ist die Region, die westlich von Südossetien liegt. Hier setzte ich meine Durchquerung, nun in Begleitung von meinem Freund Martin, fort. Nur bei genauer Betrachtung der verlassen wirkenden Bergdörfer entdeckten wir zwischen den Ruinen dann doch irgendwo eine bunte Wäscheleine, einen improvisierten Wasserhahn, ein paar schlampige Hühner oder eine magere Kuh, die an einen üppigen Apfelbaum gebunden war. Und Hunde. Immer und überall Hunde.
Inmitten dieser morbiden Idylle – so gesehen in dem Dörfchen Zeshkho – erlebten wir wieder ein Beispiel der unvergleichlichen georgischen Gastfreundschaft.
Zwischen den drei Gebäuden, die das Dorf bilden, tauchte ein freundlich lächelnder Mann auf und streckte uns seine Hand entgegen „Emsari“ sagte er und zeigt auf sich. „Ana“ sagte ich, und Martin fügte, auf sich zeigend „Martin“ hinzu. Nach einem kurzen Schweigen, fragte Emsari „Pa Ruski?“ und wieder müssen wir verneinen. Ich ärgerte mich zum x-ten Mal, dass ich kein Russisch gelernt hatte. Mit ein paar wenigen englischen und deutschen Worten und vor allem mit vielen herzlichen Gesten lud uns Emsari trotzdem ein, bei ihm zu übernachten. Das auszuschlagen wäre nicht nur unhöflich gewesen, es hätte uns auch einen der schönsten und spannendsten Abende in dieser Region gekostet.
Kaum hatten wir sein bescheidenes Heim betreten, begann Emsari aufzutischen. Selbst gemachtes Joghurt, das im Mund kriselt und auf das er ebenso stolz war wie auf seinen weißen Hartkäse. Auch das Brot war selbst gemacht und neben den Tomaten und Gurken brachte er irgendwann auch noch einen Teller mit fettigen Fleischstückchen, die wir nicht ganz zuordnen können, aber natürlich trotzdem probierten. „Gemrieli“ – lecker. Aber ganz wichtig waren natürlich Wein und Chacha-Schnaps, beides wurde aus den üblichen 10-Liter-Plastikkanistern in Becher geschüttet und wie immer sorgte mein Argument „me war Orsoli“ („Ich bin zweiseelig“, was auf Georgisch „schwanger“ bedeutet) für ganz große und herzliche Freude und Glückwünsche.
Als ich dann deutlich machte, dass ich deswegen nichts trinken will, kamen auch von Emsari wieder die typischen Gesten. „No, drink, goooood, all natural“ und er zeigte auf meinen Bauch und machte dann Gesten, als würde nach dem Genuss von seinem Schnaps ein wahrer Hulk aus meinem Kind… Ich kannte das schon. Sonst hatte ich auch oft den durchaus ernst gemeinten Satz gehört „Drink, drink – then it will be a boy!“ (was im ländlichen Georgien nach wie vor von vielen als der größere Segen angesehen wird…).
Selbstverständlich trank ich nicht mit und ebenso selbstverständlich wurde das dann auch von Emsari akzeptiert. Dafür musste Martin umso mehr trinken und ich erhob einfach immer wieder mein weiterhin volles Glas. Denn wir mussten auf alles trinken. Auf Georgien, die Berge, die Freundschaft zwischen Deutschland und Georgien, unsere neue Freundschaft und natürlich immer wieder auf unser ungeborenes Kind. Zwischendrin erfuhren wir, trotz mangelnder Sprachkenntnisse unsererseits, eine ganze Menge über Emsaris bewegtes Leben. Beispielsweise, dass er in seiner Jugend auch Bergsteiger war und damals unter anderem nicht nur die Gipfel von Tetnuldi und Ushba, sondern auch den sehr anspruchsvollen Shkhara (höchster Berg Georgiens) bestiegen hat. Emsari ist unglaublich geschickt darin, sich trotz der Sprachbarrieren auszudrücken und wir nutzten irgendwann auch Bleistift und Papier, umzeichnend unser Gespräch zu erweitern. Als Emsari uns schließlich einlud, zu seinem 60. Geburtstag Anfang Oktober zu kommen, fand ich es wirklich ein bisschen schade, dass wir nicht würden kommen können.
Beim Abschied am nächsten Tag wünschte sich Emsari, dass wir ihn irgendwann zusammen mit unserem Kind wieder besuchen kommen. Als unsere Blicke noch einmal über die fantastische vergletscherte Bergkulisse schweiften, die sich direkt hinter Zeskho hoch erhebt und in der sich unzählige kaum begangene und vermutlich wirklich großartige Touren erahnen lassen, hatte ich innerlich schon eingewilligt.
Ushguli war ein Höhepunkt meiner Kaukasusdurchquerung. Und das nicht nur, weil es bis vor Kurzem mit seiner Lage auf 2.200 Metern das höchste dauerhaft bewohnte Dorf Europas war. Diesen wirksamen Titel musste Ushguli 2014 an das tuschetische Dorf Bochorna abgeben, in dem genau ein Mann das ganze Jahr über wohnt. In Ushguli allerdings leben auch im Winter noch an die siebzig Familien, etwa 200 Menschen, es gibt eine Schule und ein reges soziales Leben. Heute ist hier mit Ausnahme von zwei Häusern in jedem Gebäude ein Gästehaus untergebracht. Zu Nicht-Corona-Zeiten boomt der Tourismus hier, oder naja – eben was man in kaukasischen Tourismuszahlen so „Boom“ nennen kann. Wir hatten Glück und konnten viel von dem Dorf ganz in Ruhe erleben, denn das Wetter verhinderte nicht nur unseren Weiterweg für ein paar Tage, sondern hielt auch die sonst täglich einfallenden Tagestouristen fern.
Urgemütlich waren die Tage in Ushguli: in der warmen Stube der Familie, bei der wir wohnten, knisterte der Kamin, während es draußen heftig regnete und ich nutzte die Zeit, um zu schreiben und zu lesen. Als das Getrommel auf dem Dach einmal leiser wurde, machten wir einen Spaziergang durch das nun umso mystischer wirkende Dorf. Seine markanten Wehr- und Wohntürme aus dem 10. Jahrhundert gehören seit 1996 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Liegengebliebene und zugewachsene Landmaschinen fügen sich ebenso ins Bild, wie eine riesige alte Glocke und die dazwischen herumlaufenden Pferde, Kühe und Schweine. Im Hintergrund tauchte zwischen Wolkenfetzen, durch das weite Tal des dort entspringenden Enguri-Flusses, immer wieder ein Stück des imposanten Shkhara-Massivs auf, das Ushguli seine unvergleichlich fotogene Lage verschafft. Am nächsten Morgen sahen wir endlich wieder blauen Himmel. Und tatsächlich zeigte sich nun das Shkhara-Massiv in seiner ganzen imposanten Schönheit. Aber das war nicht genug: Es hatte geschneit und die steilen Rinnen trugen ein strahlend weißes Kleid. Der erste Schnee des Jahres ließ auch viele der Bewohner staunend innehalten und geradezu ehrfürchtig mit dem Blick in Richtung des riesigen Gebirges verharren. Der 5.201 Meter hohe Shakhara ist der höchste Gipfel Georgiens und der dritthöchste des gesamten Kaukasus. Seine Gletscherzungen reichen noch weit ins Tal hinab, auch in Richtung Ushguli.
Entlang des viel begangenen und berühmten Trekkingwegs ging es nun weiter in die bergige „Hauptstadt“ Mestia. Die viertägige Wanderung birgt keinerlei technische Herausforderungen und die Tagesetappen sind allesamt moderat, dabei bieten sich unterwegs aber immer wieder spektakuläre Aussichten zu den höchsten Bergen des westlichen Kaukasus mit ihren imposanten Gletschern. Die Region Swanetien ist hier touristisch vergleichsweise gut erschlossen und in Nicht-Corona-Zeiten machen sich wohl auch jetzt schon bis zu hundert Menschen am Tag auf diesen Weg. Zunächst ging es in Ushguli entlang der typisch schlaglochreichen Fahrstraße an den Dorfteilen Chazhashi und Murkhmeli vorbei gen Westen, bis wir auf einen schönen kleinen Wanderpfad abbogen, der sich bald durch lichten Laubwald am Hang entlang schlängelte. Von der ganzen Horde an Straßenhunden, die Ushguli noch mit uns verlassen hatten, blieb bald nur ein großer Schäferhundmischling mit auffällig getigertem Fell übrig. Wir tauften ihn „Tigerlilly“, obwohl es ein Männchen war, aber das schien ihm nichts auszumachen und er blieb uns trotzdem tagelang treu. Auf einer großen Blumenwiese machten wir Pause und nördlich von uns ragte nun der weiße spitze Gipfel des Tetnuldi (4.858 m) in den hellblauen Himmel. Mit einem sehnsuchtsvollen Blick in seine Richtung dachte ich wieder einmal daran, dass auch dieser wunderschöne Gipfel ein fixer Bestandteil meiner ursprünglichen Tourenplanung gewesen war. Aber ein Grund, warum ich die Berge so sehr liebe, ist, dass sich vieles hier auf wohltuende Weise von selbst relativiert. Als ich abends im Biwak lag und in den unfassbar hellen Sternenhimmel schaute, der gerade die zigste Sternschnuppe von sich warf, da wusste ich wieder, dass es doch gut war, hier zu sein. Über den Chkhunderi-Pass am zweiten Tag gelangte ich wieder einmal auf einem Pferderücken. Diese Transportform hatte ich schon öfters in Anspruch genommen und immer sehr genossen.
Nicht nur, dass es so schneller ging, ich konnte damit auch die Anstrengung in der Höhe vermeiden. Die Erleichterung war groß, als mein Pulsoximeter mir noch auf 2.700 Metern konstant eine Sauerstoffsättigung von über 97 % attestierte – das hatte ich bisher noch nie gehabt – und so konnte ich in vollen und tiefen Atemzügen die Aussicht auf den zu Tal stürzenden, monumental groß erscheinenden Adishigletscher genießen. Nach dem Abstieg ins Tal überquerten wir den aus dem Gletscher fließenden Adishchala-Fluss. Es ist die einzige Stelle, die sich bei höherem Wasserstand zu einer Herausforderung entwickeln kann, aber angeblich stehen dann Einheimische mit Pferden bereit, die gegen einen kleinen Obolus die Wanderer auf die andere Seite bringen. Einige Kilometer weiter talabwärts liegt der kleine Ort Adishi, der wohl in den letzten Jahren seine Kapazitäten an Gästehausbetten massiv ausgebaut hat. Jetzt jedenfalls, wo kaum Touristen unterwegs waren, wurden uns überall Zimmer angeboten. Am nächsten Tag durchquerten wir das kleine Tetnuldi-Skigebiet und man ahnt, angesichts der breiten Fahrtrassen, wie schnell hier die Landschaft zerstört werden kann, wenn mehr Investitionen in den Ausbau der Wintersportanlagen fließen. Andererseits kann man der Bevölkerung hier natürlich einen wirtschaftlichen Aufschwung wünschen, denn in den Dörfern wird deutlich, dass die Menschen hier alles andere als materiell wohlhabend sind. Den verregneten Nachmittag harrten wir in einem hässlichen Gästehaus in dem Örtchen Zhabeshi aus und waren froh, als wir am Morgen unsere letzte kurze Etappe nach Mestia wieder bei Sonnenschein begehen konnten.
Es war fast erschreckend, dort in einer Art Stadt anzukommen, der kaum mehr etwas von der lokalen Gastfreundschaft und dem regionalen Flair anzumerken ist. Hier dreht sich alles um den Tourismus. Dennoch blieb ich hier ein paar Tage hier, um mich auszuruhen und zu schreiben. Während ich durch die Wälder oberhalb des Ortes spazierte, wurde mir deutlich, wie anstrengend ich die letzten Tage empfunden hatte. Ich erkannte, dass es für mich eben auch eine völlig neue Situation war, nicht mehr allein unterwegs zu sein. Rückblickend wurde mir bewusst, dass ich kaum wirklich tiefe Eindrücke gewinnen konnte. Meine Sinne waren mit all dem Austausch und den Gedanken über mein ungeborenes Kind so angefüllt, dass mir kaum Kapazitäten blieben, um auf die mir sonst gewohnte Art all das zu erleben, was wirklich hier, im Kaukasus, in der Landschaft, in den Elementen und zwischen den hier lebenden Menschen (und mir) eigentlich stattfindet. Es war, als läge ein Dunst über der Landschaft der letzten Tage, als könne ich mich gar nicht so genau erinnern, was da eigentlich war. Aber als dann die Frage auftauchte, ob es vielleicht besser wäre, doch wieder ohne meinen Freund Martin weiterzugehen, da merkte ich zwei Dinge sehr deutlich: Erstens, dass ich so und so nicht mehr alleine war, da mein Kind mich immer begleitete und zweitens, dass ich mich dem allein unterwegs sein psychisch aufgrund der Schwangerschaft und all der inneren Unsicherheit, die bei mir damit einherging, nicht mehr gewachsen fühlte. Es bestätigte sich einmal mehr, was das Motto dieser Unternehmung war: Ich war zwischen den Welten unterwegs.
Mal war das faszinierend und spannend, mal als sei ich zwischen diesen Welten gefangen und eingesperrt. Doch dann erwachte auch hier der Pragmatismus
(„ich kann es nun einmal nicht ändern“).
Er war mir auch früher schon oft in misslichen Lagen unterwegs sehr hilfreich, denn über ihn gelangte ich zum Optimismus zurück. Der erwachte nun in mir, reckte und streckte sich und plötzlich sah ich das zarte Rosa der morgendlichen Wolken, dann das helle Grün der Bergwiesen und schließlich erkannte ich auch in den alten Gemäuern der Dörfer wieder diese abgründige kaukasische Schönheit und wusste: Es ist gut und richtig, hier zu sein. Die letzte Etappe legten wir dennoch mit Hilfe von vier Rädern zurück. Ich wollte noch so viel sehen, die Zeit rannte, und ich hatte kaum mehr genug Kraft, meinen Rucksack zu tragen. Die Lösung, zu der ich mich schweren Herzens durchrang, war ein Mietwagen, mit dem wir noch die Bergregionen nahe der westlichen Grenze zu der ebenfalls umkämpften Region Abchasien erreichten, die wir dann in Tagestouren und ohne Gepäck erkunden konnten.
So wanderten wir zu dem imposanten Wasserfall unterhalb des Ushba-Gletschers. An seinem Fuß stehend spürte ich den Druck in der Luft, den die Wucht des Wassers im freien Fall erzeugte. Sie war voller zerstäubter, winziger Tropfen, die jeden Atemzug zu einem erfrischenden Erlebnis machten. Die Luft war schwanger mit dieser unbändigen Kraft der Elemente, die sich hier in euphorischer Form begegneten. Wasser und Luft. Ich ging so nah an das stürzende Nass heran wie möglich und blickte nach oben. Fast wurde mir schwindlig, so weit hinauf reichten die nicht enden wollenden, ineinandergreifenden und sich umeinander werfenden flüssigen Bänder, die in ständiger Veränderung im gleißenden Sonnenlicht auf mich zu stürzten. Unaufhaltsam rasten sie über den schon weichgespülten Felsen zu meinen Füßen und während ich versuchte, einem Tropfen auf seiner Bahn zu folgen, spürte ich plötzlich mein eigenes Lächeln, weil es sich so tief und weit in mein Gesicht grub, dass meine Wangen fast zu schmerzen begannen. Ich war so tief und ganz von Glück erfüllt, dass ich alles um mich herum für einige Momente völlig vergaß. Noch lange bliebt ein Echo dieses Glücksgefühls in meinem Inneren erhalten. Ich hütete es wie einen kostbaren Schatz und immer wieder vergewisserte ich mich in den kommenden Tagen, dass es noch da war. Es sind eben diese Erlebnisse, die wenngleich über die Zeit verblassend, doch die innere Schatzkiste, die in jedem von uns ruht, mit glänzenden Erinnerungen füllen können.
Dann machten wir noch einen Abstecher nach Etseri, wo uns ein Besuch bei einem gewissen Tony empfohlen wurde. Tony Hanmer, ein Kanadier, lebt seit über zwanzig Jahren in Swanetien, hat früher in Ushguli Englisch unterrichtet und betreibt nun gemeinsam mit seiner georgischen Frau Lali ein Guesthouse in dem kleinen Dorf. Es regnete wieder einmal und ich freute mich über die gemütliche Stube und Tonys Geschichten. Er teilte persönliche und sehr anschauliche Erinnerungen an die politischen Wogen mit uns, die unter der Präsidentschaft von Micheil Saakashwili die Region Swanetien bewegt haben. Und er erzählte, wie es heute ist, hier zu leben und was es im tief konservativen Swanetien für ihn bedeuten kann, wenn er beispielsweise ein schwules Pärchen in seinem Gästehaus aufnimmt und dass ihn die ungeschickte lokale Verwaltung in seinem Dorf schier in den Wahnsinn treibt.
Er lebt seit Jahren in dem Konflikt, dass er einerseits dazu beitragen will, dass es besser funktioniert, weil es nur dann auch vorwärts gehen kann, beispielsweise mit dem dringend notwendigen Bau der Straße im Dorf, aber andererseits auch nicht der ewig arrogante Ausländer sein will, der alles besser weiß. Ich verstehe seine Situation gut und möchte wirklich nicht mit ihm tauschen. Dann denke ich an die Worte von Karina, einer Freundin aus Deutschland, die seit Jahren in Mestia lebt. Sie sagte angesichts eines ähnlichen Themas „Naja, warum sollten die Georgier nicht einfach Georgier bleiben dürfen?“ Sie meint damit völlig zu Recht, dass unsere Art und Weise, Dinge zu tun oder unser Leben zu strukturieren, ja nun wirklich nicht für die ganze Welt als Maßstab gelten muss.
Schließlich erreichten wir das Schwarze Meer unweit des Städtchens Poti, wo wir einen Frachter besteigen würden, der uns über das Meer nach Odessa bringen sollte. Von dort aus würden wir die letzte Strecke der Heimreise mit dem Zug begehen. Barfuß lief ich durch den schwarzen Sand der untergehenden Sonne entgegen, was mir so kitschig vorkam, dass ich grinsen musste. Und mit Blick auf meinen sich nun deutlich wölbenden Bauch wurde mir mit Wucht klar, dass damit zwar meine Reise durch den Kaukasus endete, mir nun aber eine völlig andere Art des Abenteuers bevorstand.
Ich danke euch für das Interesse und freue mich darauf, wenn ihr Lust habt zu einem meiner Vorträge bei Globetrotter zu kommen:
Weitere Infos zu mir und meinen Projekten, sowie mein Programm als Bergwanderführerin findet ihr auf meiner Website.