Hinter den Kulissen von Victorinox

Mehr als ein Messer

Sie sind aus keiner Outdoor-Hosentasche wegzudenken: Seit über 100 Jahren produziert Victorinox seine weltberühmten Taschenmesser. Bei einem Werksbesuch in der Schweiz durften unsere Redakteure ihr Wissen rund um das Kultmesser erweitern – und bekamen dabei einen spannenden Einblick in die Geschichte des Familienunternehmens.

Eine vereiste Atemmaske, die in den Hängen des Everest wieder funktionstüchtig gemacht wird. Ein Luftröhrenschnitt während eines Passagierfluges, der einem Kind das Leben rettet. Eine Reparatur in der Schwerelosigkeit des Weltalls, die einer NASA-Mission zum Erfolg verhilft. Und das alles mithilfe eines kleinen Klappmessers. Was sich wie das Testament eines modernen Münchhausens liest, ist in Wirklichkeit eine Sammlung wahrer Geschichten um die Taschenmesser von Victorinox. Wohl kaum ein anderes Stück Ausrüstung hat so viele Orte bereist und so viele Herausforderungen gemeistert wie die weltberühmten Allzweckmesser mit dem ikonischen Kreuz. Vom Schnitzmesser für emsige Kinderhände bis zum Multitool für den professionellen Einsatz findet man die Schweizer Schneidwerkzeuge heute in Hosentaschen, Rucksäcken und Werkzeugkisten auf der ganzen Welt. Doch trotz seines globalen Siegeszuges beginnt die Geschichte eines jeden Victorinox-Messers in einem kleinen Ort in den Schweizer Alpen.


Victorinox Taschenmesser im Einsatz

Es dröhnt, scheppert, zischt und surrt. Ein metallischer Geruch liegt in der Luft. Schnaubende Maschinen arbeiten unermüdlich daran, Rohlinge zu stanzen, Klingen zu schleifen und Einzelteile zusammenzufügen – es ist ein eindrucksvoller Anblick, der sich uns im Victorinox-Werk bietet. Auf einer Tour durch das Labyrinth an Hallen und Gängen bekommen wir einen flüchtigen Blick hinter die Kulissen von Europas größtem Messerhersteller. Mit viel technischer Finesse und Fingerspitzengefühl werden im schweizerischen Ibach-Schwyz seit über einem Jahrhundert die weltberühmten Taschenmesser gebaut. Was uns heute jedoch mit seiner Komplexität, Präzision und Effizienz zum Staunen verleitet, begann ganz bescheiden vor über einem Jahrhundert mit einer unscheinbaren Werkstatt.


Messerrohlinge im Victorinox-Werk

Im Jahr 1884 gründet der junge Karl Elsener eine Messerschmiede, in der er zunächst im kleinen Rahmen chirurgische Instrumente herstellt, die er im Laden seiner Mutter verkauft. Der große Durchbruch gelingt Elsener erst 1891, als er zusammen mit 30 anderen Messerschmieden den Verband Schweizerischer Messerschmiedemeister gründet. Weil es in der Schweiz keine größeren Produktionsstätten für Messer gibt, gehen Großaufträge bis dahin ins Ausland, zum Beispiels ins deutsche Solingen. Mit der Gründung des Verbands können nun zum ersten Mal größere Aufträge über mehrere Schmieden verteilt und dadurch einheitliche Messer in großen Stückzahlen in der Schweiz produziert werden. So gelingt es Elsener schließlich, die Schweizer Armee zu überzeugen, ihr klappbares Soldatenmesser in der Heimat fertigen zu lassen – die Geburtsstunde des Schweizer Taschenmessers.


Victorinox Original Schweizer Offiziers- und Sportmesser von 1897

Das Original Schweizer Offiziers- und Taschenmesser von 1897


Zum Kultobjekt wird das Messer jedoch erst nach dem zweiten Weltkrieg. In Europa stationierte G.I.s schätzen das Werkzeug wegen seiner Zuverlässigkeit und vielseitigen Einsatzmöglichkeiten. Als beliebtes Souvenir findet es so seinen Weg in die Vereinigten Staaten, wo es seit 1977 Teil der Design-Ausstellung des New Yorker Museum of Modern Art ist. Seinen popkulturellen Adelsschlag erhält Victorinox spätestens mit der Fernsehserie MacGyver, in der das Taschenmesser seinem Besitzer regelmäßig bei seinen Abenteuern und Tüfteleien aus der Klemme hilft.


Millimeterarbeit: Unsere Redakteure Finn Krützfeldt und Daris Jayyusi bei der Montage eines Taschenmessers

Auf unserem Streifzug durch die verwinkelten Räume des Messerwerks wird uns bei aller Mechanik, Elektronik und Robotik immer wieder vor Augen geführt: Victorinox lebt nicht allein von seinen Maschinen. Das pumpende Herz des Unternehmens waren schon immer seine Angestellten. Schon früh war es Karl Elseners erklärtes Ziel die Menschen in Ibach-Schwyz mit Arbeit zu versorgen. Auch nach 100 Jahren ist das keine bloße Phrase. Nachdem der Unternehmensumsatz nach den Anschlägen des 11. September 2001 abrupt um ein Drittel einbrach, entließ Victorinox keine Angestellten. Vielmehr erkundigte das Unternehmen sich in umliegenden Betrieben, ob diese noch helfende Hände bräuchten, bis die Nachfrage nach Taschenmessern sich wieder erholte. Dadurch konnten trotz Krise alle Arbeitsplätze erhalten bleiben.


Victorinox historisches Werk 1930
Carl Elsener IV mit recycelten Schleifschlamm-Rohlingen
 Arbeiterinnen bei der Montage im Victorinox-Werk

Links: Fleißige Hände bei der Montage 1930 und heute. Rechts: Victorinox CEO Carl Elsener IV mit recycelten Rohlingen aus Schleifschlamm.


Ressourcenschonendes Wirtschaften gehört ebenfalls seit langem zur Firmenphilosophie. So ist der in den Messern verwendete Stahl zu 95% recycelt und wird ausschließlich von Stahlhütten in den Nachbarländern Frankreich und Deutschland bezogen. Selbst Schleifschlamm, der ein Abfallprodukt des Schleifprozesses ist, wird bereits seit den 1980er Jahren wiederverwertet und zu neuem Stahl verarbeitet. Und obwohl es weitaus billiger wäre, lässt Victorinox seine Taschenmesser nicht in Asien herstellen. Von der Fertigung der Klingen, Sägen und Scheren bis zur Montage geschieht die Produktion komplett im Schweizer Werk. Nachhaltig sind die Schweizer Messer jedoch vor allem aus einem einfachen Grund: Sie halten. Über Jahre. Und wenn doch einmal ein Defekt auftreten sollte, können die Messer an Victorinox zur Reparatur geschickt werden. Für den nächsten Einsatz im Wald. Oder Weltall.

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