Faszinierende Städte, betörende Landschaften und eine der abwechslungsreichsten Küchen Asiens locken Tourist:innen nach Vietnam. Der Norden des Landes bleibt davon nahezu unberührt – auf Motorradtour mit Claudio Sieber.
Fast 10 Jahre lebt der Schweizer bereits als digitaler Nomade – aktuell irgendwo zwischen Taiwan und Osttimor.
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Hanoi, Zufluchtsort für Voyeure des Kuriosen: Auf die senfgelben Fassaden französischer Kolonialbauten antwortet ein Potpourri aus Stromkabeln – wer die defekte Leitung ausmacht und sie bestenfalls repariert, kann es mit der Welt aufnehmen. Periodisch schauen undefinierte Duftmarken vorbei, gefolgt von einem bemannten Lautsprecherturm. Die melancholische Stimme des Hobbysängers kriecht wie ein Regenbogen über das Chaos aus Tellerwäschern der Dirt Kitchens. Eine bucklige Alte zieht mit ihrer Standwaage an den Suppenköchinnen vorbei. Ahnengeld asphaltiert die Gehsteige des 5-Millionen-Monsters. Ein Lautsprecher unterbricht den Singsang, um über die neueste Propaganda der Einheitspartei zu informieren. Die Städter ignorieren diese routiniert, denn die sozialistische Republik macht, was sie will, auch ohne ihre Loyalität. Viel hat sich getan seit Hồ Chí Minhs Amtszeit und dem apokalyptischen Krieg mit den USA. Wirtschaftlich betrachtet gehört das Land heute zu den interessantesten Märkten in Südostasien. Seine Mittelschicht wächst rapide, und mit ihr auch die Mobilität; waren Fahrräder in den 1980er-Jahren noch das Zugpferd der Nation, ist es seit der Jahrtausendwende das Motorrad.
Drei verschiedene Klimazonen im Sattel einer chinesischen Kopie einer Honda Win zu durchqueren, darauf hat Vietnam seit jeher ein Copyright. Ein passendes Gefährt lässt sich mühelos in Ho-Chi-Minh-Stadt oder Hanoi zum obligaten Preis von 200 bis 300 Euro auftreiben. Niemand weiß, wie oft die ehrwürdigen Maschinen die rund 3000 Kilometer der Nord-Süd-Ausdehnung Vietnams hinauf- und hinuntergedonnert sind. Das spielt auch keine Rolle, ein unfreiwilliger Besuch beim Mechaniker – erfahrungsgemäß alle 150 Kilometer – kostet im Schnitt zwei bis drei Euro. Oftmals ist das Problem dann gelöst, meistens jedoch nur vertagt. So oder so bestätigt sich nach knapp drei Monaten vor Ort meine Vermutung: Ein sporadisch kaputtes Motorrad bringt einen dem Volk und seinen Geheimnissen näher als ein klimatisierter Reisebus.
Als spannende Alternative zur bewährten Reiseroute an der Küste entlang bietet sich eine Tour durch den multikulturellen Norden an. Für die etwa 2000 Kilometer lohnt es sich, mindestens zwei bis drei Wochen einzuplanen und vorher in Hoàn Kiếm das Nötigste zu besorgen. Ich schnüre meine Siebensachen fest und gehe nochmals die Packliste durch: gefälschtes Motorrad – check; gefälschte Patagonia-Hose – check; gefälschte Ray-Ban-Sonnenbrille – check; gefälschtes Exped-Zelt – check; gefälschter Jack-Wolfskin-Sweater – check; gefälschter North-Face-Rucksack – check. Tempomat auf gute Laune, Musik an, Kickstart, los geht’s.
Einst als idyllische Abkürzung vom bekannten Sapa nach Hà Giang deklariert, entpuppt sich die Landstraße als ein Tumult aus badewannentiefen Löchern und gelegentlichen Teerfetzen. Die Tatsache, dass die hier wohnhafte Bevölkerung gezwungen ist, tagtäglich über diese Piste zu schaukeln, versöhnt. Sie wissen bereits seit ihrer Kindheit: Vietnam repariert in Zeitlupe. Kein Murren, sie nehmen es gelassen, und ich tue es ihnen gleich.
Rustikales Landleben. Hier darf man als Knirps noch nackt durch die Gegend rennen und perplex Fremden auf Motorrädern nachstarren. Inmitten der Teeplantagen von Mộc Châu finde ich ein hartes Bett. Nebenan liegt ein in Stücke gehackter Hund aus. Der Henker gestikuliert vorfreudig: »Welches Stück darf’s sein?« Heuchlerisch deute ich auf den Kopf, bin jedoch nicht sicher, ob dieser nur den Tisch dekoriert oder tatsächlich in den Topf soll. Lieber weiter zum nächsten Schuppen mit roten Plastikhockern, ich gehe wie üblich in die Küche und zeige auf Dinge, die ich reuelos schlemmen kann – Reis und Tofu.
»Wie ein Wecker im Schlummermodus perlt der Morgentau durch mein gefälschtes Markenzelt.«
Tags darauf düse ich weiter und weide mich. Weide mich am Pinsel der Natur, an den verschwenderischen Lachern mehrerer Generationen. Je abgelegener die Dörfer, desto intensiver die Freude über den vorbeifahrenden Besuch. Knapp vier Stunden später baue ich während der Dämmerung mein Zelt auf, die nächste Unterkunft liegt in nicht absehbarer Entfernung. Unter mir das weite Tal, über mir die großzügig funkelnde Milchstraße – endlich wieder draußen. Um Mitternacht sehe ich plötzlich Taschenlampen aufblitzen, einige Rufe erklingen. Schlaftrunken schlendere ich zu meinem Motorrad, das gerade von drei alkoholblöden Ganoven gestohlen wird. Mit einem Ästchen haben sie den Anlasser in die Startposition gefummelt. Eigentlich wäre nur noch ein Kickstart notwendig gewesen, um davonzubrausen und mich einem ungewissen Schicksal zu überlassen. Wäre – hätte ich nicht vergessen, die Batterie in Hanoi zu wechseln. Mangels Feingefühl wurde so lange gekickt, bis die Tretkurbel abbrach. Ich will nicht böse sein, ein unbemanntes Motorrad auf einer verlassenen Bergstraße, wer will da nicht zugreifen?! Wir vereinbaren, dass meine Maschine am selben Ort stehen bleibt. Mit dumpfem Gemurre trotten die drei dahin und ich in mein Zelt zurück.
Morgentau perlt durch das Innenleben meines gefälschten Markenzeltes. Es ist wie den Wecker auf Schlummermodus zu stellen – eine Frage der Zeit, bis der nächste Tropfen droht und den Halbschlaf unterbricht. Eine gute halbe Stunde benötige ich, um den Elektrostarter fit zu bekommen und wieder rollen zu dürfen. Via Mechaniker geht’s im Kriechtempo hinauf ins verschlafene Sìn Hồ, dann entlang malerischer Bergflanken zum Highlight meiner Nordroute. Obwohl meine Reiseplanung vor allem durch Spontanität beeinflusst ist, wusste ich bereits vor einem halben Jahr, dass ich Anfang Oktober genau hier stehen will : auf einem Hügel in Mù Cang Chải, wenige Tage vor der Reisernte.
Es gibt Orte, die spürt man nicht – Orte, bei denen die Anfahrt sinnlicher ist als der Aufenthalt. Mường Khương, nahe der chinesischen Grenze, wo einst all meine gefälschten Markenartikel durchgewunken wurden, ist einer davon. Im Leerlauf rolle ich zurück ins Tal, um den Kaffeemann wieder zu treffen, der mir vor wenigen Stunden neben bestem Kaffee auch ein veritables Lächeln servierte. Eine phänomenale Entscheidung, denn gleich nach dem Blickkontakt werde ich in das Zimmer der Mutter der Freundin seines Bruders gewiesen, dann von der Großfamilie zum Essen eingeladen. Ich bekomme ein Schälchen mit der hiesigen Spezialität: Entenblut-Gelatine und gehackter Entenhals.
En route nach Bắc Hà, unweit östlich. Eine Frau winkt nach mir, als ich gerade umringt von irrenden Zicklein und einem Pferdewagen mögliche Unterkünfte ausmache. Ich finde eine Gastfamilie mit kleinem Restaurant außerhalb vom Dorfkern. Perfektes Timing, denn ein gutes Dutzend Lehrer und Lehrerinnen feiern heute den Abschied einer Berufskollegin. Es dauert keine Minute, und ich stecke inmitten von ethnischen Kinh, Tày, Thai, Dzao, Nung und Hmong, von Saufgelage und Essensbergen. »Một, Hai, Ba, Zôô« (1, 2, 3, cheers) – kontinuierlich werde ich zum Ritual aufgefordert, dabei hütet eine strenge Abfolge von Regeln die Tradition: Trinkpartner auswählen, Gesundheit predigen, mit einem Schluck austrinken, der linke Arm führt die rechte Hand zum Gegenüber, kräftig schütteln und Dank aussprechen, Glas wieder auffüllen und bis zur nächsten Herausforderung ausharren. Wie sich das ausgehen wird, war mir im Voraus klar. Als unseren Gastgebern der Reiswein ausgeht, werde ich auf dem Rücksitz eines Mopeds deponiert und ins nächstbeste Karaoke-Etablissement abgeschleppt. VIP-Room Nummer 5 wird aufgeschlossen, quasi ein kleiner Disko-Bunker – niemand kommt mehr rein, niemand darf mehr raus. Das Interieur ist simpel; gestapelte Bierkästen, ein 150-Zoll-Bildschirm sowie dreifache Schalldämmung an Decke und Wand. Das ist nötig, denn nach einigen Gesangslektionen und Bierrunden singe ich bestens gelaunt Liebesschnulzen im Duett auf Pseudo-Vietnamesisch.
Bắc Hà schlummert. Außer sonntags, dann mutiert die Kleinstadt zu einem quicklebendigen Umschlagplatz. Ein Grüpplein ambulanter Friseure verziert den Gehweg mit den Haarbüscheln frisch geschorener Kinder. Kunterbunt bekleidete Flower Hmong verkaufen ein Kaleidoskop aus Stoffen, Früchten, toten und lebendigen Tieren. Vertraute wie fremde Geruchsfetzen wechseln sich ab. Holistische Schmerztherapeuten haben sackweise komische Pilze, suspekte Wurzeln und getrocknete Heilkräuter angeschleppt, und nicht wenige haben tagelange Märsche in Kauf genommen, um hier nach einem potenziellen Match zu fahnden. Dorfmärkte sind hier das nostalgische Tinder der Provinzbevölkerung.
Während die Black Hmong und die Flower Hmong ihre jeweilige Ethnie mit Gespür für Farbkombinationen repräsentieren, gehen die White Hmong einen weniger pragmatischen Weg; sie mixen goldene Pailletten-Oberteile mit einem grünen Bleistiftröckchen, kombinieren knallige Töne mit pastellfarbigen Rüschen und mumifizieren ihr Haupt mit einem bunten Wollschal.
Selten habe ich so viel nachgedacht, war mir meines Daseins, meines Lebens so intensiv bewusst wie während der Etappen im Sattel. Das Dirigieren eines Motorrads über einsame Bergpässe feuert Gedanken an und belebt. Scheinbar muss mein Körper in Bewegung sein, wenn es mein Geist sein soll. Ich habe wenig Gutes gehört über Đồng Văn, und genauso wenig Schlechtes. Wie wunderschön vielversprechend! Đồng Văn ist sowohl dem Zeitgeist als auch dem Massentourismus größtenteils entgangen, die Anfahrt ist zu unbequem. Ich bleibe für ein paar Tage hängen, fahre dann weiter. 1500 Meter schraubt sich der Mã Pí Lèng in die Höhe, um dann über zig Haarnadelkurven wieder runter ins Tal und weiter nach Bản-Giốc im äußersten Zipfel der Provinz Cao Bằng zu führen.
Seit China und Vietnam den Grenzkonflikt 1979 ad acta gelegt haben, wandert die Grenze auf wundersame Weise jedes Jahr ein paar Meter weiter nach Süden. Ein Paradebeispiel für den leisen Klinsch mit den nördlichen Nachbarn sind die malerischen Bản-Giốc-Detian-Wasserfälle, denn sie gehörten früher ganz zu Vietnam. Heutzutage hat China Anrecht auf die Hälfte der Wasserfälle. Würde ich also bis zur Mitte schwimmen, ich wäre in der Provinz Guangxi. Es ist einfach erkennbar, wer wem zehn Entwicklungsjahre voraus ist. Alle drei Minuten legt ein motorisiertes Floß von Chinas Seite ab, um die mit Schwimmwesten eingehüllten Fotohascher möglichst nahe an die Action zu befördern. Gleichzeitig schlendern hier einige Vietnamesen am Ufer entlang, rollen die Picknickdecke aus oder gehen angeln. Auf Chinas Seite wimmelt es von Busparkplätzen, Hotelkomplexen und Ferienwohnungen mit Blick auf die Fälle. Seit meinem zweiten Besuch bei den vietnamesischen Nachbarn letztes Jahr habe ich gehörigen Respekt vor Team China. Denn sie kommen in Horden, haben keine Zeit und wollen sich kaum irgendetwas körperlich verdienen. So muss zwingend Infrastruktur in die Natur hineingebaut werden.
Hoch oben erspähe ich ein buddhistisches Kloster. Etwas Nächstenliebe meditieren kommt jetzt genau richtig. Ein angehender Mönch empfängt mich mit Sanftmut und weist mir den Weg zu einem Aussichtspunkt. Ich zeige nach China und mime Argwohn. Der Novize schmunzelt verlegen. Außer mir schert sich niemand um diesen Ort des Seelenheils. Fünf Stunden umgibt mich außer dem fernen Rauschen des Wasserfalls nur behagliche Stille. Bevor ich aufbrechen darf, schreibt mir der Geistliche eine wohltuende Phrase in mein Notizbuch (aus dem Vietnamesischen übersetzt): »Freut euch über den Erfolg oder die guten Taten anderer – als wären es eure.« Er schaut mich an, und ich weiß genau, was er meinte. Und er weiß genau, dass ich weiß, was er meint.
Bắc Sơn befindet sich auf halbem Weg zwischen Bản-Giốc und Hanoi und bietet sich daher als letzter Pin auf meiner Nordroute an. Im Kontrast zum höher gelegenen Mù Cang Chải ernten die Künstler der Agrarkultur hier ein paar Wochen später, daher umspült bis dato ein Meer aus goldfarbenen Reispflanzen die famosen Karsthügel des Tals. Nach ausgiebiger Naturschau schlendere ich über den kleinen Markt, komme jedoch nur langsam voran, da mir jeder etwas aus seinem Sortiment direkt in den Mund drücken will. Abrupt werde ich in einen kleinen Schuppen geschickt, zum Armdrücken gegen den lokalen Metzger herausgefordert. Ein Kanister Reiswein wird angeschleppt. Ich beschließe meiner Leber zuliebe, das muss aufhören. »Một, Hai, Ba, Zôôô!«