»Wie hoch ist die Chance,
dass wir es schaffen?« – »Zehn Prozent. Was meinst du?« – »Glaube ich auch.«

Über alle Berge

Vom Atlantik bis ans Mittelmeer: einmal längs über die Pyrenäen auf dem GR11. David Bitter, ­Mitarbeiter im Marketing bei Globetrotter, und ­seine Frau Lea sind über 800 Kilometer und 40 000 Höhen­meter von Meer zu Meer gewandert.


TEXT: David Bitter

FOTOS: Lea und David Bitter

Lea (31) und David Bitter (31)

gehen beide sehr gerne sehr lange wandern und sind schon Trails in Schottland, auf La Gomera, in den Pyrenäen, durch die Dolomiten, über die Alpen, in den Anden und durch deutsche Mittelgebirge gelaufen. Während Lea als »Economist« bei der European Central Bank auch privat für die strategische Touren­planung zuständig ist, sitzt David als »Team Lead Store Marketing« bei Globetrotter an der Quelle für die neueste Ultralight-Ausrüstung.

Mit Eis in der Hand schlendern wir abends durch Frankfurt. Ich traue mich kaum, die Frage laut auszusprechen: »Wie hoch ist die Chance, dass wir es schaffen?« Lea zögert: »Zehn Prozent. Was meinst du?« – »Ja, glaube ich auch.« In Gedanken malen wir uns aus, was uns in den kommenden sechs Wochen auf 800 Kilo­metern mit über 40 000 Höhenmetern erwartet.

Vom Atlantik zum Mittelmeer, einmal durch Spanien über die Pyrenäen. Lea hat eine Sprunggelenksverletzung und wird mit Bandage und steifen Wanderschuhen laufen müssen – nicht ihr Ding. Ich habe mir bei der Probewanderung wieder die Schienbeine entzündet. Das war vor sieben Jahren bereits der Grund, den GR 11 nach zwei Wochen abzubrechen. Zwei Jahre später sollten ein Freund und ich wegen seiner Knieentzündung aufgeben müsse­­n. Jetzt der dritte Versuch. Irgendwas lässt uns nicht los, hat mich die letzten sieben Jahre nicht losgelassen. Einfacher Trotz – oder sind es doch das Fünkchen Zuversicht und der Sog des Abenteue­rs? Wir einigen uns auf ein Motto, das unseren Trip bestimmen soll: »Wir freuen uns. Schauen wir mal, was wird.« Nicht zu weit nach vorne denken, einfach Schritt für Schritt, Tag für Tag – egal mit welchem Ergebnis.

Die letzten Tage verbringen wir mit Planung, Gewichts­optimierungen und zu vielen Einkäufen bei Globetrotter. Die Kolleg:innen schütteln schon den Kopf, als ich zum dritten Mal die Woche vorbeikomme. Ich möchte »ultralight« wandern und stecke Lea mit der Idee an. Die Küchenwaage wird unser wichtigster Komplize. Um Klischees zu bedienen, werden Zahnbürsten und Waschanleitungen beschnitten. Ist ein Handy ohne Schutzhülle eine kluge Idee? Ultralight bedeutet, ein Rucksackgewicht von unter fünf Kilo zu erreichen. Verbrauchsmittel sind ausgenommen, sowie die Kleidung am Körper. Ich liebe die geistig­­e Ruhe, die eintritt, wenn man sich aufs Notwendigste reduzier­­t. Es gibt nur ein sauberes T-Shirt – manchmal keines, wenn wir nicht waschen können. Ich werde sechs Wochen die gleiche kurze Hose zum Wandern, Schwimmen und Schlafen tragen. Bei mir ist die Hoffnung verloren, aber Lea bewahrt einen Rest an Anstand. Sie packt außer einem E-Reader zwei weitere Luxusgegenstände ein: einen Flachmann und ihr Messer.

Die Tage bis zur Abfahrt rasen vorbei und wir finden uns in einem ICE nach Paris wieder. Dort steigen wir in den TGV nach Hendaye. Nach weniger als zehn Stunden sind wir am Startpunkt: Faro de Higuer. Der weiße Leuchtturm steht im Kontrast zum regnerischen Himmel der zerklüfteten Atlantikküste.

Abends treffen wir José. Wir ahnen noch nicht, dass er uns bis zum Ende begleiten wird. Im Schlafsaal begrüßt uns der drahtige Neurentner herzlich, als er merkt, dass wir die gleiche Idee haben. Dass nur ich Spanisch spreche und er kein Wort Englisch versteht, hält ihn nicht ab, uns über unsere Planung zu löchern. Mit guter Moral treten wir am Morgen vor die Tür, um sanft von heftigem Regensturm und Böen umarmt zu werden. Ich betone, wie warm und trocken es letztes Mal war. Jetzt waten Lea und ich durch dichten Nebel und nasse Felder. Aber so unwirtlich es auch scheint, die sanft geschwungenen Hügel mit mystischem Nebel, satter Vegetation und knuffigen Kühen und Schafen ziehen uns bereits in ihren Bann.

»Die Stimmung ist mäßig, Lea kann meine Ausführungen über das gute Wetter beim letzten ­Versuch nicht mehr hören.«

Durchnässt von den ersten Tagen beschließen wir, im 99-Seelen-­Ort Hiriberri eine Casa Rural – ein bewirtetes Landhaus mit Zimmern und Schlafsälen – aufzusuchen. Wir haben zwar heute erstmals kurz die Sonne gesehen, mussten aber trotzdem den Rest des Tages auf rutschigem Kalkstein absteigen. Die Stimmung ist mäßig und Lea kann meine Ausführungen über das gute Wette­r beim letzten Versuch nicht mehr hören.

Bei Jana, der Trail-Mutter von Hiriberri, ist alles schnell vergessen. Sie nimmt alle Wandernden auf und sie tischt auf: fünf Gänge, alles selbst angebaut oder aus dem fußläufigen Umkreis. Sogar der Joghurt ist selbst gemacht wie auch der Likör. Mit vier jungen Spaniern und einem holländischen Paar tauschen wir uns über die Abschnitte vor uns aus. Gemischte Gefühle: Es liegt noch ungewöhnlich viel Schnee, es ist von Steigeisen und Eispickel die Rede. So was haben wir noch nie gemacht. Die Spanier wollen lieber aussteigen. Wir wollen weiter, haben aber Respekt vor dem Berg. Neun Leute wurden schon mit dem Heli ausgeflogen – und die Saison läuft erst zwei Wochen.

Alle Zimmer sind belegt, als Michael und Richard aus Tschechie­­n klopfen – ein Vater mit Sohn. Jana bringt es nicht übers Herz: Sie dürfen im Aufenthaltsraum schlafen. Sofort rekrutier­­t sie die jungen Spanier zum Aufbau des Klapptisches. Auch Vater und Sohn werden genötigt, brav alle Gänge zu essen, obwohl es schon spät ist.

Die Route folgt immer schrofferen Hügeln und geht nach über einer Woche in die Ausläufer der Zentralpyrenäen über. Ein ehrfürchtiges Gefühl überkommt uns, als wir vor uns nur noch Berg­e sehen, teilweise mit weißer Spitze und über 3000 Meter hoch. In den folgenden Tagen wandern wir aber noch durch blumen­besprenkelte Hochtäler. Kleine Paradiese, von der Zeit vergessen, auf denen Pferde weiden. Nachdem wir naiv annehmen, die Pferde sind für touristische Zwecke hier, klärt uns José auf: Pferdewurst ist eine teure Delikatesse.

Es wird nun ernsthaft alpin. Dass ich meine abgelaufenen Trailrunningschuhe auf der Tour wechseln muss, habe ich eingeplant, sie haben kaum noch Profil. Aber dass so spät im Jahr noch so viel Schnee liegt, ist eigentlich nicht vorgesehen. Der nächste Abschnitt vom Refugio de Lizara nach Candanchú ist berüchtigt. Vor ein paar Jahren wurde die Route hier angepasst – eine kürzere Strecke mit besserer Aussicht. Leider führt der Weg jetzt durch steiles, nordseitiges Gelände, in dem sich der Schnee länger hält, und mit höherer Absturzgefahr. Wir sind froh, dass wir uns mit Michael, Richard und José zusammenschließen. Auf magische Weise hat uns der Trail wieder zusammengeführt.

José ist der Einzige mit Steigeisen. Er wird Spuren treten. Ein falscher Tritt und wir würden Hunderte Meter rutschen, um schließlich über die Bergflanke zu verschwinden. Ich stand noch nie so unter Adrenalin beim Wandern. Ohne harte Sohlenkanten machen es mir meine Schuhe nicht leicht. Wir queren unterhalb der Route, hier ist es etwas flacher. Michael und Richard ver­suchen es oberhalb, ich behalte sie im Auge. Der Weg zieht sich und auf der Hälfte beginnt, was sich wie ein schlechter Film anfühlt: Ich höre es krachen und sehe, wie sich ein paar Hundert Meter oberhalb mehrere große Felsen von der Wand lösen. Die beiden höre­n nichts und ich rufe: »Stop! Take cover!« Reflexartig bleiben sie stehen, zum Glück geschützt vom einzigen Felsen im Schneefeld. Die Brocken rasen wenige Meter vor ihnen vorbei. Sprachlos verharren wir einige Sekunden. Wir beschließen, im nächsten größeren Dorf Universal-Steigeisen zu kaufen. Mein Herz weint angesichts eines Kilos mehr Gewicht.

Pausentag mit Spa

Die Infrastruktur der Refugios ist in den Pyrenäen sehr gut und die Etappen des GR 11 sind meist darauf abgestimmt. Wir nutzen sie, wenn es passt. Das Hüttenleben ist rustikal, aber gemütlich. Viel­e Gänge, viel Essen, viele Geschichten. Es ist eine familiäre Atmosphäre. Fast alle hier haben das Gleiche vor. Das schweißt zusammen. Auch nachts weiß man, dass man auf diesem ein­samen Trail nicht allein ist, denn das Schnarchen ist ohren­­- be­täubend. José hat nicht mal ein Tarp dabei und verlässt sich rein auf die Berg­unterkünfte. Das klappt nicht immer. Als wir ihn nach seinem letzten Schlafplatz fragen, antwortet er grinsend: »Unter einem Stein mit grandioser Aussicht.«

»Ich höre es krachen. Ein paar Hundert Meter oberhalb lösen sich große Felsen von der Wand.«

Wegen Gewitter legen wir nach der 15. Etappe eine Zwangspause ein. Direkt neben dem Refugio befindet sich zu­fällig ein Vier-Sterne-Hotel mit Spa. Wir buche­­n uns ein – was für ein Luxus! Die Erholung wissen wir noch Tage später zu schätzen, als wir eine unserer härtesten Etappen bewältigen. Nach einer Nacht unterm Tarp bei unter null Grad auf über 2000 Meter am Refugio de Góriz steigen wir steil 800 Höhenmeter ab. Dann sofort 1000 Höhenmeter wieder rauf, um direkt über eine steile, zugeschneite Schotterpiste wieder 1300 Höhenmeter abzusteigen. Als Abschluss geht es weglos durch ein von einer Lawine zerstörtes Waldgebiet und mehrere Hundert Meter barfuß durch einen eiskalten Bach, der den Trail überspült.

Dennoch haben Lea und ich unseren Rhythmus gefunden. Die ersten Wochen waren von »Knie, Schienbein, Fuß links, rechts, Mitte« geprägt. Plötzlich verschwinden alle Wehwehchen, nur unsere großen Zehen bleiben taub. Der Körper scheint zu akzeptieren, dass er früh aufsteht, frühstückt, lange läuft, dann gedehnt und massiert wird, gefolgt von waschen, kochen, schlafe­n. Mit etwas mehr Selbstbewusstsein schicke ich ein Update an die Kolleg:inne­­n: zwei Drittel geschafft.

Eine Tradition bei Weitwanderungen sind Trailnamen. Lea etabliert sich als »Die Lok«. Langsam, aber unaufhaltsam, und sie braucht Treibstoff: Bonbons, Snacks, lokalen Kräuterschnaps aus dem Flachmann – alles wird verbrannt. Sie ist die Makro­managerin der Reise, hat die Etappen vor- und bis zum Ende geplant. Ich bin für das Operative zuständig, kundschafte nach Markierungen, nerve mit Anekdoten von früheren Versuchen. Mit der GPS-Uhr am Handgelenk gebe ich Updates zu Route und Höhen­metern und definiere die Pace. Aufgrund meiner blauen Kompressionssocken und dem Hang zu leichten Übertreibungen erhalte ich den Namen »Captain Blaubein«. Die Abenteuer von Lok und Captain Blaubein – das klingt vielversprechend.

Hitze statt Höhenmeter

Wir führen das Abenteuer fort: baden nackt in den schönsten Bergseen, oft direkt neben einem Schneefeld. Genießen Sonnenauf- und -untergänge an nebligen, nassen Schlafplätzen, die eigentlich als »excellent dry campsites« beschrieben waren. Und wir werden eins mit Murmeltieren, Salamandern und Adlern. Lea schießt mehr Fotos von süßen Kühen als von Menschen, und ehe wir uns versehen, erreichen wir den Punkt, an dem ich vor sieben Jahren nicht weiterkam – Areu. Wir feiern mit Willi, der uns eine Woche begleitet. Willi »Eisenwade« taufen wir ihn. Einerseits wegen seiner strammen Waden. Andererseits, weil er sich seine neuen Steigeisen in die Wade gerammt hat, als er in ein Schneeloch fiel. Mit drei Stichen genäht, setzte er die Tour fort. Mageninfekt und kaputtes Handy, nichts kann ihn aufhalten.

»Wir schmecken schon das Mittelmeersalz in der Luft, doch wir vermissen die hohen Berge.«

Nach einer Nacht mit 23 Pfadfinder:innen in einer Acht-Personen-Schutzhütte verlassen wir kurz Spanien. Auf der Streck­­e sacken wir einen Fast-Dreitausender mit atemberaubender Aussicht ein und erreichen das laute, dicht besiedelte Andorra. Will­i schickt für uns alle mehrere Kilo Gepäck weg: Steigeisen, Inlets, Mützen, Handschuhe. Wir brauchen das warme Zeug nicht mehr. Mein Rucksackgewicht sinkt auf unter viereinhalb Kilo.

Gut eine Woche vom Ziel entfernt streifen wir durch hundert Jahre alte, verlassene Bergdörfer, über Talebenen und trockene Wälde­­r. Die Hitze brennt. Höhenmeter sind wir gewohnt, aber der Endgegner ist die Sonne. Wir wünschen uns den Atlantik­regen zurück, aber sagen es nicht laut. Durchziehen ist angesagt. Wir schmecken schon das Mittelmeersalz in der Luft, doch wir vermissen die hohen Berge. Kork­eichen­wälder sind schön, aber unsere Komfortzone hat sich verändert. Wir ertappen uns bei Langeweile. Die Lösung: Handymusik und Trekkingstock-­Gitarre, während wir nun öfter auf heißen Straßen laufen.

Die letzten Tage kombinieren wir Etappen, um weiter zu laufen. Wir schaffen jetzt über 35 Kilometer am Tag – nur noch 1000 Höhenmeter statt 2000 Höhenmeter machen einen Unterschied. Wir schlafen ausschließlich unterm Tarp, waschen uns und die Kleidung im Fluss. Wir essen unsere eiserne Ration in einem Olivenhain auf. Ein melancholisches Gefühl kommt auf, während sich die Hitze am letzten Tag noch mal in unser Hirn brennt. Mein Chef fragt per Nachricht, ob wir angekommen seien. Ich antworte mit einem Bild von Llançà: »Letzte vier Kilometer, kein­e Höhenmeter mehr!« Der Trail führt eigentlich noch bis zum Leuchtturm weiter. Unser Ziel ist aber am Strand von Llançà. Über 800 Kilometer und 40 000 Höhenmeter liegen hinte­r uns. Wie oft haben wir uns diesen Moment ausgemalt – ich seit Jahren. Wir gehen mit Rucksäcken bis zur Brandun­g, obwohl wir sie auf dem Weg beim Hotel ablegen könnten. Ziehen die Schuhe aus, und tauchen die tauben Füße ein, fallen uns in die Arme. Die Geister, die wir riefen, lösen sich im Salz des Meeres auf. Vielleicht gab es die Geister nie. Wir hätten uns nicht sicher sein können, ohne loszulaufen. »Gar nicht schlecht für zehn Prozent«, sagen wir uns lachen­­d und überlegen, welches Abenteuer wohl als nächstes ansteh­­t? Egal, einen Schritt nach dem anderen. Wir freue­n uns. Wir schauen mal, was wird.

Dieser Beitrag ist Teil des

Globetrotter Magazin #34, Herbst/Winter 2024

Das Globetrotter Magazin #34 ist da – mit großen Touren und kleinen Alttagsfluchten: Wir wünschen eine gute Reise!