Nach einem langen, kalten Winter beginnt für Paddeleltern mit schulpflichtigen Kindern spätestens an Pfingsten die Freiluftsaison. Südfrankreich steht dann meist ganz oben auf der Liste möglicher Fahrtenziele. Wer jedoch die Anfahrt scheut und/oder sich nicht über zwei Wochen Schulferien – wie etwa in Bayern und Baden-Württemberg – freuen kann, dem sei folgendes Duett empfohlen, das sich gut in einer Woche realisieren lässt: erst tagelanges Weitwandern auf dem Tagliamento, dann – wenn man eh schon in der Gegend ist – ein Stadtbummel der ganz besonderen Art durch das wunder schöne Venedig.
Etwas Know-How im Umgang mit Strömung, Seilfähre und Stechpaddel vorausgesetzt, sind beide Touren wie dafür gemacht, um den Nachwuchs von den Vorteilen des Paddelns als Familiensport zu begeistern – sei es durch das Robinson-Crusoe-Feeling auf den einsamen Flussinseln im Tagliamento, XXL-Sandkasten inklusive, oder das »Herr-der-Diebe« Feeling in Venedig, wo man dank Kanu das Weltkulturerbe aus einer völlig neuen Perspektive erlebt. Und das geht so …
Ein Traum von einem Fluss
Das Ideal eines jeden Paddlers ist ein unverbauter Wanderfluss mit sportlichen Einlagen, der vom Hochgebirge bis ins Meer durchgehend befahrbar ist. So was sucht man normalerweise in Alaska oder auf Kamtschatka – aber sicher nicht im industrialisierten Italien. Und doch: In einem Tal im äußersten Nordosten hat eine Flussart überlebt, die im übrigen Alpenraum als ausgestorben gilt. Dem Tagliamento blieb bis dato das Schicksal eines Lechs – um mal ein Beispiel zu nennen – erspart, der vom Alpenrand bis zu seiner Mündung nur noch aus einer Kette Stauseen besteht. Aber wie soll man auch einen Fluss verbauen, der in einem bis zu vier Kilometer breiten Kiesbett ständig seinen Lauf ändert und dabei unvorstellbare Massen an Geröll transportiert?
Links und rechts am Ufer bietet der Tagliamento viel Platz für tolle Biwaks und ungestörtes Freiluftleben.
Schon Faltbootpionier Herbert Rittlinger erkannte im Jahr 1962, dass der Tagliamento »ein Paradies für ungestörtes Freiluftleben« ist und »auf 130 Flusskilometern bei ausreichendem Wasserstand eine hindernisfreie Fahrt bis zur Adria« bietet.
Heute nennt man so was ein »Source to Sea«-Erlebnis. Falls überhaupt, ist das im Alpenraum sonst nur unter Inkaufnahme unzähliger Umtragungen und kanalisierter Flussabschnitte möglich. Nicht so am Tagliamento: Bis auf zwei Wehrstufen fließt dieser Fluss frei vom Gebirge bis ins Meer. Doch zum Weitwandern mit dem Kanu gehört ja so viel mehr als die bloße Paddelei, schließlich verbringt man selten mehr als fünf, sechs Stunden im Boot. Der Rest besteht aus Kanucamping, und das lässt sich am Tagliamento perfekt zelebrieren. Wildzelten und Feuermachen sind zwar auch in Italien offiziell verboten, man kann es jedoch als geduldet betrachten, da es in der einsamen Geröllwildnis des Tagliamento-Tals sowieso niemand registriert. Und irgendwo muss man ja übernachten, denn die Strecke ist – Gott sei Dank – an einem Tag nicht zu schaffen, sondern reicht für drei, vier Tage »ungestörtes Freiluftleben«!

Unsere Kinder jedenfalls sind von Anfang an absolute Tagliamento-Fans. Dieser Fluss ist so vollkommen anders als alles, was sie bis her kennengelernt haben. Wanderpaddeln in Deutschland, das ist im Vergleich fast immer ein Kompromiss. Auf kurze Fließstrecken folgen meist lange Staustrecken, auf denen man ordentlich am Stock ziehen muss, um vorwärts zu kommen. Und dann folgt über kurz oder lang immer ein Staudamm, den man mühsam umtragen muss.
Die Kunst der Lagersuche

Ganz anders der Tagliamento. Je nach Wasserstand und der aktuellen Geschiebelage – der Tagliamento wird von jedem Hochwasser auf links gekrempelt, kein Stein bleibt auf dem anderen – ist die Strömung stellenweise der art flott, dass man manchmal schon anfängt rückwärts zu paddeln, um Tempo rauszunehmen. Wohl dem, der auf dem Tagliamento nicht zum ersten Mal im Boot sitzt. Mit etwas Routine aber wird die Paddelei zu einer mühelosen Spritztour und ehe man sich versieht, hat man 20 Kilometer auf dem Tacho. Schon am frühen Nachmittag kann man sich daher nach einem schönen Lager umsehen. Dieses sollte folgende Kriterien erfüllen: leicht erhöhte Lage für eine schöne Aussicht, aber nicht zu weit vom Fluss entfernt, damit man seine Ausrüstung nicht weit schleppen muss. Genug Treibholz für ein ordentliches Lagerfeuer. Feiner Sand zum Spielen für die Kinder, grober Sand für unters Zelt. Kein Haus oder Privatgrund in der Nähe, damit sich nie mand gestört fühlt. Und dazu eine Badestelle ohne große Strömung, so dass die Kinder ge fahrlos baden können.
Am zweiten Tag, wenn links und rechts die Berge des Friaul langsam weichen, wird das Kiesbett zu einer Geröllwüste, die bis zum Horizont zu reichen scheint. Der Fluss fächert sich oft in mehrere Arme auf. Hier wählt man grundsätzlich den wasserreichsten und als Gruppe auf jeden Fall denselben! An solchen Teilungen bestehen nämlich gute Chancen, sich längerfristig aus den Augen zu verlieren, denn die einzelnen Flussarme teilen sich gern mehrmals, laufen weit voneinander entfernt und erst nach vielen Kilometern wieder zusammen. Das verästelte Flusssystem des Tagliamento ist wie geschaffen für eine klassische Greenhorn-Nummer: Zwei versprengte Grüppchen warten an verschiedenen Stellen aufeinander im Glauben, die jeweils andere sei halt langsamer, müsse aber jeden Moment auftauchen. In Wirklichkeit wartet die eine Partie an einem anderen Zusammenfluss flussab – wohl dem, der ein Handy dabeihat.
Unsere Kinder sind von Anfang an absolute Tagliamento-Fans. Dieser Fluss ist so vollkommen anders.
Wichtig bei der Lagerwahl: viel Schwemmholz in der Nähe. Mannschaft an Kapitän: Die Wassertemperatur passt und schön flach ist es auch, hier können wir unser Lager aufschlagen.
Nach vier Tagen und drei Nächten beenden wir unsere Tour an der Ponte Tagliamento der SS13. Aufgrund des schwindenden Wasserstands sind wir die Etappe von Dignano bis hierher mit leeren Booten gefahren, während einer aus der Gruppe das Gepäck im Auto transportiert hat. Mehr als zehn Zentimeter Tiefgang hätte der verästelte Tagliamento nicht zugelassen. Aber warum führt der Tagliamento hier unten so wenig Wasser, obwohl er am Start so gut eingeschenkt war?
Des Rätsels Lösung lüftet sich, als wir am Ausstieg eine andere Paddlergruppe treffen. Sie kennen sich aus und wissen, dass die Grundwasserpumpen schuld seien. Schmeißen die umliegenden Bauern diese an, um ihre Felder zu bewässern, sinke der Wasserstand mitunter auf null – und das binnen Minuten. Man tut also gut daran, den Tagliamento zu Jahreszeiten zu befahren, in denen die Landwirtschaft von Mutter Natur genug Wasser bekommt.
Nur zwei Wehre bremsen die freie Fahrt für freie Paddler. So sehen Flüsse aus, die man nicht begradigt hat.
An manchen Stellen ist das Flussbett bis zu vier Kilometer breit, und der Tagliamento verästelt sich in unzählige Arme.
Stadtbummel per Paddel
Wer mag, kann den Tagliamento auch auf den letzten 40 Kilometern bis zur Mündung ins Mittelmeer bei Bibione befahren. Dann hat man es allerdings mit dem eingangs zitierten Problem zu tun: Staustrecken. Daran ist zwar nur das minimale Gefälle schuld, nicht irgendwelche Wasserkraftbauten, doch das Ergebnis ist dasselbe: Es MUSS gepaddelt werden. Hinzu kommen Gegenwind (oft) und steile Ufer (immer), die den Blick in die Landschaft verstellen. Kurzum: laaangweilig. Wir widmen uns lieber des Vergnügens zweitem Teil: Ein Tag paddeln in Venedig. Mit Sack und Pack geht es in die nahe Lagunenstadt. Hier will das Familienoberhaupt der Familie die Schönheit der Wasserstadt auf die unmittelbarste Weise vermitteln: per eigenem Wasserfahrzeug. Das ist derart spannend, dass ich es schon seit Jahren mache. Allerdings ohne Kinder, dafür im schnittigen Seekajak.
Für unser Vorhaben braucht es daher Plan B. Der verwunschene Camping San Nicolò auf dem Lido, sonst erste Adresse in Sachen Basislager, kommt nicht infrage, da man von dort auf dem Weg Richtung Stadtzentrum zwei stark frequentierte Kanäle queren muss. Das geht im schnellen Einer problemlos, doch in unserem schwerfälligen Familienkutter will ich das nicht riskieren. Als Alternative haben wir uns für zwei Nächte eine Ferienwohnung nahe der Rialto-Brücke gemietet. Und das Auto parken wir im Parkhaus nahe am Bahnhof. Zu Plan B kommt Trick 17: Luftboot statt Festboot. Denn mit Dachfracht kämen wir weder ins Parkhaus, noch könnten wir ein Festrumpfboot woanders deponieren als im Auto. Nachdem wir die Wohnung gefunden haben, streifen wir zunächst zu Fuß durch die Stadt.

Es ist nach 20 Uhr und so ist der Großteil der Tagestouristen längst wieder per Vaporetto, dem venezianischen Wasserbus, in alle Himmelsrichtungen verschwunden. Jetzt, im Schein der Laternen, gehört die Prunkstadt den Einheimischen und ein paar Hundert Übernachtungsgästen. Wo man sich tagsüber stundenlang durch die Gassen staut, könnte man jetzt flott joggen gehen. Was auch viele machen. Ende Oktober findet hier sogar ein Marathon statt, 42 Kilometer im Zickzack durch die Gassen.
Wir laufen stattdessen hinter den Kindern her, die Scipios altes Kino aus »Herr der Diebe« suchen. Erst gegen Mitternacht geben sie auf, das Bett ruft. Vielleicht finden wir es ja morgen mit dem Kanu?
Wenn die Tagestouristen weg sind, verwandelt sich Venedig in die schönste Stadt der Welt.
Damenschlüpfer voraus
Die Ausfahrt startet gegen 10 Uhr in der Nähe des Parkhauses. Schnell ist der Luftkanadier aufgeblasen und zu Wasser gelassen. Seine enorme Breite gibt uns ein sicheres Gefühl, als wir uns vorsichtig durch die Kanäle tasten. Mit den Nachwuchspiraten an Bord wählen wir eine defensive Route und meiden die Hotspots wie Canal Grande und Rialto-Brücke. Diese sind nach einer neuen Verordnung, die das jahrzehntelang geduldete Paddeln mittlerweile reglementiert, ohnehin bis 15 Uhr tabu. Aber egal, denn uns interessieren ohnehin mehr die Hinterhöfe als die herausgeputzen Prunkfassaden. Dort, wo der Zahn der Zeit unsaniert nagt, fragt man sich stets, wie die Veneter gegen Ende des Hochmittelalters nur auf die Idee kommen konnten, eine ganze Stadt auf Holzpfählen in den Sumpf zu setzen? Für uns jedenfalls scheint die Stadt wie gemacht. Mühelos gleiten wir auf grünem Wasser durch backsteingesäumte Kanäle, die sich oft auf wenige Meter verengen. Links und rechts ragen die Häuserschluchten empor und nur ab und an erhaschen wir einen Strahl Maisonne. Überall gibt es was zu entdecken. Sei es das halb versunkene Motorboot, das an einem verrottenden Seil auf den Untergang wartet, oder Damenschlüpfer, die knapp über Kopfhöhe an einer Seilbahn von Wäscheleine auf ein bisschen Sonnenlicht zum Trocknen warten. Der Blick fällt aber auch unverstellt in paradiesische Innenhöfe, wo Springbrunnen plätschern und Topfpalmen ranken.

Einmal, nach einer Rast an einem Straßencafé, in dem auch die Einheimischen ihren geliebten Spritz trinken, verschaffen wir uns einen Realitätscheck. Unverzagt reihen wir uns in den Strom der Touristen Richtung Markusplatz. Denn dieser, das muss hier fairerweise gesagt sein, ist aus Bootsperspektive nicht zu erfassen. Nach einer Stunde Geschiebe und Gedränge sind wir froh, wieder im Boot zu sitzen und Venedig exklusiv für uns zu haben. Nach einem langen Tag auf dem Wasser, bei dem wir weder gekentert sind noch für ein Verkehrschaos gesorgt haben, grüßen uns sogar die Gondolieri respektvoll. Oder sind die bloß froh, dass nicht sie unsere Kinderbande in ihren prunkvollen Hochglanz-Gondeln spazieren fahren mussten?
Anmerkung der Redaktion: Nach diversen Einschränkungen in den letzten Jahren sind seit 2019 private Paddeltouren in den Kanälen Venedigs nicht mehr erlaubt. Der örtliche Veranstalter www.venicekayak.com bemüht sich um eine Abmilderung des Verbots und gibt gern Auskunft über den Stand der Verhandlungen.