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Interview mit Sarah Marquis

Eins mit der Natur

Sarah Marquis ist eine der größten Grenzgängerinnen unserer Zeit. Sie fühlt sich als Teil der Natur und meistert mit dieser Gewissheit erbarmungslose Abenteuer.

Wandern mit Kindern im Kleinwalsertal

Mehr als 50 000 Kilometer ist Sarah auf der ganzen Welt gelaufen – alleine und oft weglos, mit Nahrung nur aus der Natur.

    Sarah, du scheinst besonders gut darin zu sein, nicht auf andere Menschen zu hören?

    Sarah: Ja. (lacht) Nein, weißt du was? Ich bin besonders gut darin, auf mich selbst zu hören.

    War das schon immer so? Was war die kleine Sarah für eine Person?

    Ich bin in einem wirklich kleinen Dorf in einem Teil der Schweiz aufgewachsen, der strukturell schwach war. Es gab keine Vorbilder, keine Aussichten auf ein spannendes Leben. Aber es gab den Bücherbus, der wöchentlich kam. Ich bin hin gerannt, habe Klassiker, Biografien, Abenteuerromane ausgeliehen und alles verschlungen. Ich verschwand in den Büchern. Und ich verschwand mit meinen Brüdern in den Wald. Das waren meine Welten. Und wenn man sie miteinander verknüpft, dann kommt man zu dem Leben, das ich seit über 25 Jahren führe.

    Dein Weg ist – wortwörtlich – wie kein anderer. Dich hat es schon früh solo auf lange Weitwanderungen gezogen. Wie hat das damals dein Umfeld aufgenommen?

    Wenn meine Mama mit anderen Müttern über die Kinder gesprochen hat, dann ging es so: Mein Sohn macht Buchhaltung oder eine Kind studiert Medizin. Was macht deine Tochter? Und meine Mama antwortete: Sie läuft. (lacht) Ich musste mich auch immer erklären. Aber was soll ich sagen? Für mich war und ist es das Schönste überhaupt. Da ist es nicht so wichtig, wenn andere es nicht verstehen. Gehen ernährt mein Herz. Ich wusste, das ist der Weg, den ich einschlagen muss, weil er mich so glücklich macht.

    Warum gerade zu Fuß gehen? Warum nicht mit einem Fahrzeug oder dem Fahrrad?

    Gehen ist unsere natürliche Geschwindigkeit, das Tempo, das es uns erlaubt, die Landschaft zu lesen. All unsere Sinne sind für das Wandern gemacht. Wo ich gehe, ist das überlebenswichtig.

    Aber warum bist du gerade an diesen Orten unterwegs – in den unwirtlichsten Regionen Australiens zum Beispiel?

    Weil du dort gut sein musst. Alles um dich herum ist unbekannt. Das schärft deine Sinne­. Du musst alles wahrnehmen, um zu überleben. Dadurch wirst du klarer, zentrierter. Da draußen gibt es eine andere Sprache. Es ist, als ob du diese Sprache das erste Mal verstehst. Und wenn du sie sprichst, hast du ein ganz neues Zuhause.

    Was ist das für eine Sprache?

    Eine instinktive Sprache. Und damit auch eine menschliche Sprache, das darf man nicht vergessen. Eine urmenschliche Sprache. Wir sind Teil der Natur, wir tragen sie in uns. Und es ist so schön, die Zeichen lesen zu können. Du weißt, wann ein Sturm aufzieht, weil es die Tiere schon viel früher in ihrem Verhalten zeigen. Ich spüre Dinge auf der Haut, ich rieche, wenn es in der Nähe Wasser gibt.

    Wie können wir uns das konkret vorstellen?

    In Australien hatte ich einmal zwei Tage nichts zu trinken gefunden. Ich stellte mein Zelt auf und sah auf meine Karte. Mir war klar: Acht Stunden in die Richtung und ich treffe sicher auf einen Fluss. Ich hatte jeden Schritt im Kopf. Ich wusste, wo ich hinwollte. Und als ich morgens um 3:30 Uhr loslief, bog ich nach 500 Metern plötzlich ab. Mein Körper machte nicht das, was der Kopf sagte. Kurz darauf traf ich auf wilde Vegetation und einen Teich mit purem, reinem Wasser.
    Sarah spürt, wenn Wasser in der Nähe ist. Die Verbindung zur Natur verläuft nicht über Technik, sondern über ein tiefes, instinktives Wissen.
      »Ich aß verführerische Früchte, obwohl kein Tier sie angerührt hatte – und wurde blind.«

      Aber du startest keineswegs naiv und spontan in deine Abenteuer. Du bereitest dich akkurat vor …

      Ja, das ist essenziell. Ich liebe den Rechercheteil. Ich lese alles, was ich über die Region finden kann, und glaube mir, das Internet hat nicht alle Antworten. Du musst richtig Forschungsarbeit leisten, in Bibliotheken gehen, alte Bücher suchen und wälzen. Über die Region, Flora und Fauna, Jagdtechniken, Schutztechniken. Dann reise ich einen Monat vorher an und lerne vor Ort von den Menschen und dem Land.

      Du sprichst mit den Einheimischen?

      Ja, ich habe viel von den Ureinwohnern Australiens, den Aborigines, gelernt. Ihr Wissensschatz ist unglaublich, so wertvoll, so alt. Aber auch neu (lacht)

      Sarah Marquis (53)

      … ist »National Geographic«-Abenteuerin des Jahres 2014, war nominiert für den »21st Century Adventurer Award 2025« und zehnfache Buchautorin. Sie wuchs mit zwei Brüdern in Montsevelier im Schweizer Jura auf. Ihr großer Entdeckerdrang manifestierte sich schon im Kindesalter. Als Siebzehnjährige entschied sie, Zen­tral­anatolien per Pferd zu erkunden – ohne reiten zu können.
      Bald ging es aber auf den eigenen Füßen (und solo) weiter: 4260 Kilometer durch den Westen der USA, 14 000 Kilometer durch das australische Hinterland, acht Monate auf Inka-Pfaden von Chile nach Peru und 2010 für drei Jahre von Sibirien durch die Wüste Gobi, die Mongolei, Laos, Thailand bis nach Australien.
      Das Outback hat es ihr generell angetan – auf einem 750-Kilometer-Trip durch Kimberley, die unwirtlichste ­Region Australiens, hatte sie nur Essen für zehn Tage dabei und sprach über ­Wochen mit keiner Menschenseele. 

      Das klingt nach einer Geschichte!

      Ich habe in Tasmanien einen alten Fischer belagert. Im Regenwald gibt es furchtbar viele Blutegel, die gerne in jede Körperöffnung wandern. Ich war mir sicher, dass es da auch Tricks gibt, sie fernzuhalten. Aber ich habe in den Büchern nichts gefunden. Und so stand ich jeden Tag vor dem alten Mann. Er war genervt, aber ich blieb hartnäckig. Irgendwann meinte er: »Ich sag es dir, aber du darfst es nicht weitererzählen.« Und weißt du, wie sich die Männer schützen? Sie ziehen Seidenstrumpfhosen an. Da kommen die Blutegel nicht durch. Ein recht moderner und einfacher Tipp also.

      Wie weißt du, was du essen kannst und was nicht?

      Es gibt einige Tests. Erst reibe ich die Pflanze innen auf den Unterarm, wo die Haut besonders dünn und empfindlich ist, und schaue, ob es eine Reaktion gibt. Falls nicht, nehme ich sie in den Mund und kaue ein wenig. Dann spucke ich sie aus und warte wieder auf eine Reaktion.

      Liegst du immer richtig?

      Nicht immer, nein. Im Regenwald hatte ich einmal furchtbar Hunger. Oh, ich war so hungrig. Dann sehe ich diese Früchte. Überall. Wunderschöne, verführerische Früchte. Und mir war klar, dass das nicht gutgehen kann. Kein Vogel, kein Tier hat sie gegessen. Der ganze Boden war voll, aber es gab keine Exkremente. Ich habe trotzdem hineingebissen – und sie haben schrecklich geschmeckt. Dann habe ich noch mal probiert und irgendwann war der Geschmack okay. Ich saß da, schaute in den Wald, dachte mir: Das Leben ist schön – und dann legte sich ein Film über meine Augen. Ich wurde blind.

      Was machst du in so einer Situation?

      Ich musste lachen. Ich stellte mir vor, wie der Baum jetzt auf mich herunterschaut und mich auslacht. Ich habe viel getrunken und mit der Flüssigkeit lichtete sich der Nebel.
      Der Alltag in der Wildnis ist reduziert, aber nie monoton. Die Routine draußen folgt einem Rhythmus. Jeder Handgriff sitzt.

        Du bist auch noch ganz klassisch mit Karte und Kompass unterwegs, oder?

        Topografie ist für mich die Basis. Ich brauche sie, um alles einzuordnen, alles zu verstehen und mir einzuprägen. Inzwischen sehe ich auf der Karte, wo es Wasser geben muss oder einen Mandelbaum. Das ist so wie im Supermarkt, wo man weiß, an welchem Ort man die Milch findet. Wenn du etwas 25 Jahre machst, wirst du richtig gut darin.

        Wenn die Wahrnehmung so intensiv gefordert ist, bleibt weniger Platz für das, was in der Zivilisation viel Raum einnimmt, oder?

        Ich nenne es den Reinigungsprozess von der Gesellschaft. Von all den Normen, Prägungen, Einordnungen. Am Anfang hört man noch Stimmen. Die von den Eltern, von Freunden, der Welt. Aber sie verklingen nach drei bis vier Wochen. Diese Welt schmilzt weg. Dann bist du da. Da gibt es kein Vorher, kein Nachher. Nur das Jetzt.

        Das klingt nach Transzendenz.

        Nein, das ist es nicht. Ich habe ein volles, intensives Bewusstsein für das Leben um mich. Ich werde Teil der Natur. Es ist ein intensives Hier, ein Einswerden, aber keine Transzendenz.

        Aber es ist ja alles kein Spaziergang. Du bist dem Tod viele Male nur knapp entkommen. Krokodile in Australien, Denguefieber im Dschungel von Laos, der Armbruch im tasmanischen Regenwald oder alkoholisierte Reiter in der Mongolei, die dich bedroht haben.

        Wenn ich losgehe, weiß ich, dass mein Leben auf dem Spiel steht. Aber ich habe diesen festen Glauben an mich, an meine Fähigkeiten. Das ist kein Ego-Ding. Es geht nicht nur um mich. Ich fühle, dass ich all das Wissen vieler Generationen in mir trage. Man muss sich selbst in einer Form aufgeben, sich dekonstruieren, um eine Verbindung zur Natur aufzubauen und an etwas Größeres zu glauben.

        Aber unser Kopf und die Menschen um uns rauben einem oft das Vertrauen, oder?

        Wenn ich losgehe, weiß ich, dass mein Leben auf dem Spiel steht. Aber ich habe diesen festen Glauben an mich, an meine Fähigkeiten. Das ist kein Ego-Ding. Es geht nicht nur um mich. Ich fühle, dass ich all das Wissen vieler Generationen in mir trage. Man muss sich selbst in einer Form aufgeben, sich dekonstruieren, um eine Verbindung zur Natur aufzubauen und an etwas Größeres zu glauben.

        Hast du denn einen Tipp, wie man sich von den ­Vorbehalten lösen kann?

        Schritt für Schritt. Vertrauen ist ein Prozess. Wenn du von etwas träumst, dann mache es auch. Aber lass dir Zeit. Schlafe eine Nacht im Wald. Gewöhne dich an die Geräusche. Du wirst schlecht schlafen, das ist normal. Aber es wird dich verändern. Du wirst Ängste abbauen, Vertrauen in dich und in die Natur gewinnen. So vieles lernt man auf dem Weg und es macht was mit dir, wenn du verstehst, dass du viel mehr kannst, als du denkst – und eben mehr in dir steckt, als dein Kopf oder die Gesellschaft dir sagt.

        Entdeckst du denn noch neue Dinge an dir?

        Jeden Tag! Ich mache ständig Sachen, die ich noch nie gemacht habe. Ich will mich nicht nur in meiner Komfortzone bewegen. Ich will nicht, dass meine Welt kleiner wird. Ich will lernen, ich will Neues entdecken. Ich habe Bücher geschrieben, und mir fällt es schwer, Bücher zu schreiben. Ich habe ein kleines Haus gebaut, ich gebe Workshops, habe Talks auf Innovations-Konferenzen gehalten …
        »Ich sehe meine Rolle als verbindendes Element zwischen Mensch und Natur.«

        Das ist auch faszinierend an dir. Du bewegst dich in der einsamen Natur genauso selbstverständlich wie unter Menschen. Du scheinst eine Frohnatur zu sein und in keiner Weise eine Menschenfeindin, die in die Abgeschie­denheit der Natur flüchtet.

        Nein, überhaupt nicht. Ich renne nicht vor den Menschen weg. Ich lebe im Wald im Wallis in meiner kleinen Bubble, aber ich gehe auch auf eine Konferenz mit 2000 Menschen in Paris. Ich sehe meine Rolle eben als verbindendes Element zwischen Mensch und Natur.

        Und auch speziell als Inspiration für Frauen, oder?

        Ja, für mich gab es keine weiblichen Vorbilder. Zumindest keine, die noch am Leben waren. Die Entdecker waren große, bärtige Männer. Ich finde, für Frauen sind Unternehmungen in der Wildnis sogar einfacher, weil wir intuitiver sind, eine sinnlichere Offenheit für das Leben in uns tragen. Wir gehen nicht mit Kraft und Muskeln vor, wir vertrauen mehr unserem eigenen inneren Guide.

        Schaut man sich in der Welt der Entdeckungen und Abenteuer um, sind Frauen noch eine Rarität.

        Und es ist wichtig, dass sich das ändert. Die Natur kann uns so viel lehren, so viel Erleichterung und so viel Selbstbewusstsein bringen. Und wir werden blockiert von traditionellen Rollen und Denkmustern. Ja, wir Frauen sind anders als Männer. Aber nicht schwächer oder unfähiger. Im Gegenteil: Wir brauchen mehr weiblichen Einfluss. Es geht nicht um Dominanz, sondern um eine ­Balance, von der wir noch weit entfernt sind. Das Sensationelle ist doch, dass wir uns so wunderbar ergänzen und gemeinsam so viel stärker sind.

        Wenn du auf die Welt blickst, was siehst du?

        Ein Spinnennetz. Alles ist miteinander verknüpft. Es sind Dynamiken, die wir verstehen können, wenn wir uns auf die Natur, auch auf unsere Natur, einlassen. Das Leben ist magisch.

        INTERVIEW: Sissi Pärsch

        FOTOS: Archiv Sarah Marquis

        Cover Globetrotter Magazin 36 Fjällräven Polar
        Dieser Beitrag ist Teil des

        Globetrotter Magazin 36, Herbst/Winter 2025

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