unterwegs mit dem Start-Up La Virgule

Eins Komma Null

»La Virgule« macht aus hochwertigen Stoffresten der Outdoor-Branche tolle Ruck­säcke und Taschen. Solche
Start-ups besucht Matti Heilmann für Globetrotter. Beim gemeinsa­­men Businesstrip durch Portugal staunte er: Schlafsack statt Hotel, Surfstrand statt Konferenzraum,
Lagerfeuer statt Videocall.

Stadt, Strand, Workflow – ­Benoit, Maxime, Matti und Nathan beim Start ihres Roadtrips durchs schöne Portugal.

»Bring bitte Schlafsack und Kopfkissen mit!« Als Matti Anfang des Jahres seinen lange ausgemachten Businesstrip mit den Gründern von La Virgule terminiert, muss er kurz stutzen. Kein weiches Hotelbett? Nein, denn die Franzosen, die während des Studiums teils länger in Portugal gelebt haben, sind Camper. Und so mieten sie sich, wann immer sie können, für ihre Lieferan­tentermine und Produktionsbesichtigungen im Hinterland Portugals ein Reisemobil. Das ist maximal effizient, denn so haben sie zum einen ihr Büro immer dabei und können sich perfekt vorbereiten, zum anderen verlieren sie keine Zeit beim Ein- und Auschecken in zweifelhaften Landhotels, auch Umweg­e werden so vermieden. Die gewonnene Zeit investieren sie lieber in einige Stunden Surfen und »Sunsetwatching« an einem der vielen Stellplätze an der Küste, die man in der Nebensaison noch guten Gewissens nutzen kann.
Dass La Virgule in Portugal produzieren lässt, hat gute Gründ­e. Das Land ist eines der letzten in Europa, in dem man noch eine funktionierende Textilwirtschaft findet, die auch vor Kleinserien nicht zurückschreckt. Denn mehr ist bei La Vir­gule nicht planbar, da es sich das Unternehmen zur Aufgabe gemacht hat, alte Sportartikel wie eben Surfsegel und Gleitschirme wiederzu­verwerten. Kreislaufwirtschaft at it’s best! Ist im Grund­e simpel, wurde jedoch in den letzten drei Jahrzehnten gern dem »Höher, Schneller, Neuer« geopfert.
La Virgule muss nehmen, was der Markt über hat und was die portugiesischen Produzenten verarbeiten können. Taucht man tiefer in die Materi­e ein, wird schnell klar: Das Angebot ist riesig, doch die Qualitä­­t schwankt stark. Daher ist die Selektion brauch­baren Materials stets der erste Arbeitsschritt. Hierfür arbeitet man seit Kurzem mit »Campus Circular« zusammen. Auf dem Geländ­e einer ehemaligen Ziegelfabrik sind Vater und Sohn Ferreira dabei, aus einer Industrieruine ein Co-Working-Spac­e zu machen, das sich voll und ganz der Kreislaufwirtschaft widmet. Hierhin lässt La Virgule Überkapazitäten, B-Ware und Secondhand liefern. Dann heißt es sichten, säubern und sortieren. Die Hersteller seien oft froh, so Benoît Gourlet, verantwortlich für die Produktentwicklung, dass sie ihre Ware nicht preisintensiv entsorgen müssen, so dass sie oft sogar die Transportkosten übernehmen. Im Campus Circular wird auch der erste Teil der Weiterverarbeitung erledigt: Händisch werden mit Schablonen die Einzelteile der jeweiligen neuen Produkte ausgeschnitten. Benoît weiter: »Kreislaufwirtschaft ist nie der bequemste Weg. Man muss die Extrameile in der Produktion gehen, um den Dingen ein neues Leben ein­zuhauchen. Daher brauchen wir Partner wie Campus Circular, die mit dem gleichen Idealismus zu Werke gehen wie wir.«

Für ihre regelmäßigen Touren zu den Nähereien im Hinterland Portugals mieten die Jungs gerne mal ein Reisemobil.

Low tide, high hopes

Ortswechsel. Bevor wir morgen zwei Nähereien besichtigen, geht es an die Küste. Die Jungs kennen hier einen schönen Stellplat­­z fern aller Ansiedlungen. Kaum ist der Motor aus, stehe­n Klappstühle und Tisch, darauf Weißbrot, Olivenöl und ein bisschen Käse. Der Blick fällt auf den Atlantik, wo jetzt, Mitte April, noch ganz schöne Brecher anrollen. Zudem passen die Gezeiten nicht. Surfen fällt heute aus. Stattdessen lassen wir den Rotwein kreisen und ergötzen uns am Sonnenuntergang. Höchst­e Zeit, mal den Namen der Company zu ergründen. La Virgule bedeutet Komma. Ein Komma leitet eine Sprechpause ein. Zeit zum Durchatmen, Innehalten und Überlegen, um danac­­h eine neue, bessere Geschichte zu erzählen, die das Wohl unserer Welt über alles stellt.
Seit 2019 machen sie – Matthias, Benoît, Nathan und Maxim­e – das so. Ihre Produkte bringen es auf den Punkt. Schaut man sich zum Beispiel ihren Bestseller-Rucksack »Gravelot« an, ist man schnell verzückt, dass Kreislaufwirtschaft derart cool aussehen kann. Das Hauptmaterial stammt von einem Schlauchboot. Regenjacken und Kitesegel wurden für die Fächer innen verwendet, während die Schultergurte und der Verschluss aus Sicherheitsgurt sind. Ein Stück Kletterseil bildet die beiden Schlaufen auf der Front.
Am nächsten Morgen geht es nach kurzem Frühstück französischer Art – zwei Kaffee und ein blankes Croissant in der nächsten Bäckerei – wieder ein Stück weit ins Inland. Wir sind mit Eduard­­o verabredet. In seiner kleinen Fabrik entstehen vornehmlich Rucksäcke für verschiedene Anwendungsbereiche. Vom kleinen Schul-Daypack bis zum Bigpack für Werttransport­unternehmen, der seinen Inhalt bei unerlaubter Öffnung mit Farbe markiert, ist alles dabei. Wer derart divers produziert wie Eduardos Näherinnen, der kann auch Upcycling-Rucksäcke, bei denen beinahe jedes Produkt ein Unikat ist.
Nach einem kurzen Rundgang durch die Produktion dis­kutieren die Franzosen mit Eduardo mögliche neue Produkte. Vieles geht und wird kommen, doch bei einem Prototyp muss er passen. Ein Baseballcap. Dafür braucht es einen Hutmacher, was jedoch kein Problem sei, denn zwei Straßen weiter kenne er einen. Flugs kursiert dessen Visitenkarte und keine halbe Stunde später stehen wir in dessen Werkshalle. Groß ist hier auch nix, doch eine Kleinserie sollte zwischen den Karnevalskappen und Cowboy­hüten, die hier alle unter einem Dach fabriziert werden, machbar sein. Benoît zeigt Materialproben und erläutert seine Vorstellungen von Schnitt und Verarbeitung, der Hutmacher hört aufmerksam zu und schlägt ein. Deal!

La Virgule bedeutet Komma. Sprechpause. Innehalten. Zeit, ­Dinge besser zu machen.

Solche Netzwerke sind es, für die die La-Virgule-Macher immer wieder nach Portugal kommen, das kann kein Videocall ersetzen. Und auch das Iberische Schwein, zu Lebzeiten frei­laufend und genährt aus Eicheln der Korkeiche, zu dem uns ­Eduardo in der Mittagspause einlädt, gibt es nicht bei Microsoft.
Als finales Highlight des Tages geht es abends nach Nazar­é. Der malerische Küstenort ist berühmt-berüchtigt für sein­e gigantische­­n Wellen bis zu 30 Meter Höhe, die mancher Winter­sturm hier gegen die Klippen donnern lässt. Bei uns sind es zwar nur fünf Meter, doch für einen gepflegten Feier­abend-Surf ist auch das zu viel, zumal die Richtung von Wind und Swell nicht passen. Das ist zumindest für Matti ein Trost, der daheim den letzten Nachtfrost genutzt hat, um ordentlich auf seine Schulter zu fallen. Aua! So bleiben nur der Griff zum kühlen »Superbock«-Bier, der Blick in den Sternenhimmel und lang­e Gespräche über das Universum im Allgemeinen und die irdischen Tücken der Produktion. In einem ist man sich absolut einig: Das A und O sind kompetente Näherinnen. Ohne ihre Fingerfertigkeit geht nichts. Was sie mit ihren Industrie­nähmaschinen zaubern, lässt sich niemals durch Roboter und KI ersetzen. Und bei La Virgule seien die Näherinnen besonders motiviert, da durch die diversen Grundmaterialien fast jedes Produkt eine persönliche Challenge ist.
Der letzte Tag unserer Reise führt uns nach Lissabon. Auf dem Weg dorthin ist jedoch noch eine »Dawnpatrol« in Peniche fällig. Dawnpatrol ist der frühe Vogel der Surfgemeinde und meint den Start zur Dämmerung, noch bevor der Großteil der anderen Wurm- ähhhh Wellenfans aus den Federn kommt. Also klappen wir bereits gegen vier Uhr unsere Reisemobildächer runte­r und tuckern zum Strand. Peniche gilt als DER Surfhot­spot Portugals, da hier die Wellen gleich von zwei Seiten auf eine Halbinsel treffe­n und die Chancen auf gute Bedingungen deutlich höher sind als andernorts. Schnell sind Benoît, Nathan und Maxime in ihre Neos geschlüpft und tippeln mit dem Brett unterm Arm ins Wasse­­r. Zeit für einen Kaffee – und darüber nachzudenken, auch mal so einen Surfkurs am Atlantik zu buchen.
Mittags wartet ein letzter Höhepunkt dieses Businesstrips der besonderen Art. Wir treffen Christopher Storey von Sea Shepherd, bei der Meeresschutzorganisation zuständig für Kooperation­­en. Mit ihm zusammen haben die »Komma-danten« die 35-Liter-Duffle »Hors Bord« entwickelt. Natürlich stilgerecht aus einem ausgemusterten Schlauchboot. Das prominente Sea-Shepherd-Logo darauf zeigt einen Totenkopf, Symbol für das, was wir Menschen dem Meer antun. Darunter finden sich jedoch Hirtenstab und Neptuns Dreizack. Beides steht für die Bereitschaft, Dinge zu schützen, zu verteidigen und notfalls dafür zu kämpfen. Könnte es einen besseren Partner für die Perfek­tionisten von La Virgule geben?

Die Einzelteile für die Hüft­taschen werden händisch aus alten Stoffresten »geerntet«.  | Brothers in arms – Matti und Chris Storey von Sea Shepherd.


TEXT UND FOTOS: Michael Neumann

Dieser Beitrag ist Teil des

Globetrotter Magazin #34, Herbst/Winter 2024

Das Globetrotter Magazin #34 ist da – mit großen Touren und kleinen Alttagsfluchten: Wir wünschen eine gute Reise!
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