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Outdoor-Geschichte(n)

Sturz ins Leere

Vor 40 Jahren bestiegen zwei junge Briten eine schwierige Eiswand in den Anden. Berühmt wurden sie jedoch wegen des unglaublichen Überlebensdramas beim Abstieg – und eines der packendsten Bücher der Expeditionsliteratur. 


TEXT: Stephan Glocker

GM36 Outdoor Geschichte(n) Sturz ins Leere, Bergsteiger neben Berg

Joe Simpson und Simon Yates 1985 am Siula Grande, dem Berg rechts oberhalb des Gletschers.

»Touching the void«, wie Joe Simpsons Bericht über die Ereignisse am Siula Grande im Mai 1985 im Original heißt, ist kein Heldenreise-Epos. Es ist eine dreck­ige Story, voller Leid und Schmerz. Ein Zwei-Mann-Drama, in dem Auf­opferung, Durchhaltewille und verzweifelte Entscheidungen den Unterschied machen zwischen Leben und Tod. Schonungslos schildert Simpson den Abstieg in die Finsternis. Er berührt das Nichts. Und kehrt zurück.

Als Joe Simpson, 25, und Simon Yates, 21, ihr Kletterequipment durch ein einsames Tal der peruanischen Cordillera Huayhuash schleppen, wirken sie vielleicht etwas abgerissen, doch sie sind fit und ehrgeizig. Ihr Ziel ist der 6344 m hohe Siula Grande. Über einem Gletscher thront die 1400 Meter hohe Westwand. Sie wurde noch nie bestiegen, was daran liegen könnte, dass sie aussieht wie eine zerklüftete arktische Eislandschaft, die jemand senkrecht hochgeklappt hat. In Lima haben Joe und Simon den Backpacker Richard aufgelesen und als Wächter für ihr Basislager auf 4570 m Höhe angeheuert. Zu bewachen gibt es bei dieser Low-Budget-Expedition freilich wenig, abgesehen von ein paar Hirten ist niemand hier oben. Das nächste Dorf, die nächste Straße, sind Tage entfernt.

Die Akklimatisierungstouren laufen mäßig. Eis und Schnee verhalten sich in den Anden anders als in den Alpen. Das Wetter ist am Hauptgrat zwischen Pazifik und Amazonasbecken wild und schwer einzuschätzen. Doch das hält Simon und Joe nicht auf. Sie planen vier Tage für die Westwand, vielleicht fünf. »Wenn wir nach einer Woche nicht zurück sind, bist du stolzer Besitzer unserer Ausrüstung. Sollte etwas schiefgehen, kannst du eh nichts machen«, sagen sie zu Richard.

Das ist nicht so absurd, wie es heut­zutage klingt. 1985 gibt es keine Handys, kein GPS, keinen Onlinewetterbericht. Und in Peru auch keine Bergwacht.  Der Plan: über Geröll und Gletscherfeld bis zum Fuß der Westwand – und hinauf. Für den Abstieg haben sie eine vermeintlich leichte Route ausgeguckt: erst vom Gipfel über den Nordgrat Höhe abbauen bis zum Santa-Rosa-Joch. Und von dort in flotten Abseil-Etappen die letzten 1000 Meter runter zum Gletscher.

Der Plan ist tough, die Realität tougher. Joe und Simon kommen zunächst gut vora­­n und schaffen bis mittags 600 Meter. Dann stockt der Aufstieg. Die Orientierung in den Couloirs und Eisfällen ist schwer, mehrmals kommt es durch Steinschlag und ausbrechendes Eis zu lebensgefährlichen Situationen. Erst um 22 Uhr, nach 15 Stunden in der Wand, finden die Briten endlich einen Biwakplatz. Die Temperatur schätzen sie auf minus 15 Grad.

Die Katastrophe

Als guter Geschichtenerzähler schiebt Joe Simpson hier im Buch eine Anekdote ein: Bei einer ähnlichen Übernachtung am Bonatti-Pfeiler, hoch über Chamonix, brach der Felssims in der Nacht ohne Vorwarnung ab und stürzte samt darauf abgelegter Ausrüstung und Bergschuhen in die Tiefe. Joe und sein Kletterpartner hingen frei an einer einzigen Sicherungsleine – zwölf Stunden lang, bis ein Helikopter sie rettete. In Peru keine Option. Helikopter, selbst wenn es hier welche gäbe, können diese Höhe kaum erreichen.

Der zweite Tag ist nicht leichter: Extrem ausgesetzte Kletterei, der Schnee klebt am senkrechten Fels, die Gipfelwechte ist riesig. Für 100 Höhenmeter brauchen sie vier Stunden. Auf 6000 Meter grabe­­n die ­Briten eine Schneehöhle und schieben sich um 23 Uhr in die Schlaf­säcke. Simon hat Erfrierungen an den Fingern erlitten. Am Morgen überwinden sie endlich die Gipfel­wechte, lassen die Westwand unter sich und stehen bald auf dem Gipfel. Hier hört in vielen Berg­büchern die Story auf. In »Sturz ins Leere« hat man erst ein Viertel der Seiten geschafft. Bis hierher war es abenteuerlich, anstrengend und riskant. Nun beginnt die Katastrophe. Ein Sturm zieht auf. Der vermeintlich leichte Abstieg über den Nordgrat ist viel schwieriger als gedacht. Flachere Stücke gehen Joe und Simon am Seil, beim Sturz des einen hat der andere so die Chance, ihn abzufangen – oder fliegt mit in die Tiefe. Im Whiteout tasten sie sich zwischen Schneetürmen, Felsen und den Abgründen beidseits des Grats voran.

Plötzlich bricht unter Simon ein riesiges Stück der Gipfelwechte ab, er stürzt ins Bodenlose, bis Joe ihn am Seil hält. Im Schneckentempo geht es weiter – bis tief in die Nacht. Nur 300 Höhenmeter haben sie abgebaut. Im Biwak essen sie ihren letzten Proviant. Simons Finger sind schlimmer geworden. Der Abstieg bleibt lebensgefährlich. Einmal gerät Joe ins Rutschen und wird wie durch ein Wunder vor dem Abgrund im Schnee gestoppt. Doch langsam kommen sie dem rettenden Joch näher. Ein letzter Absatz, vielleicht acht Meter hoch. Joe beginnt hinabzuklettern. Dann stürzt er, nicht tief, jedoch mit gestreckten Beinen auf einen Fels. Der rechte Unter­schenkelknochen wird durch das Knie­gelenk getrieben. Der Schmerz ist kaum erträglich, noch schlimmer ist der Schock der Erkenntnis: Das gebrochene Bein ist sein Todesurteil. Simon wird ihn zurücklassen müssen. Joe wird sterben.

Simon kappt das Seil

Simon schließt auf, umreißt die Situation und gibt Joe erst mal, was sie an Schmerzmitteln haben: Paracetamol, das hilft gegen leichte Kopfschmerzen. Simon lässt Joe nicht zurück. Simon verwandelt sich in eine Ein-Mann-Bergwacht und bringt Joe unter haarsträubenden Umständen zum Start der Abseilstrecke. Schneehaken zum Sichern haben sie nicht mehr. Also ruckelt sich Simon im Schnee einen tiefen Sitz zurecht und lässt den vor Schmerzen schreienden Joe am Seil ab, bis es zu Ende ist. Dann muss Joe sich irgendwie im Schnee abstützen und das Seil entlasten, Simon kommt nach und es geht wieder von vorne los. Das Risiko ist enorm, bei einem Sturz wären beide tot. 

Wann immer sich das rechte Steigeisen verhakt und Joes Bein verdreht, explodiert der Schmerz. Aber es funktioniert. Sie bauen Höhe ab, das Gletscherfeld kommt näher. Es ist schon dunkel, aber noch ein, zwei Mal abseilen, dann ist es geschafft. 

Wieder lässt Simon Joe ab, doch nun verändert sich der Steilhang. Joe rutscht über eine Klippe, hängt frei in der Luft, das Seil ist zu Ende. Joe schwebt 15 Meter über dem Gletscher, direkt unter ihm gähnt eine Spalte. Ein Erreichen der Wand oder Hochklettern am Seil ist unmöglich. 45 Meter weiter oben stemmt sich Simon in den Schneesitz, der langsam wegbröselt. Wind übertönt alle Rufe, es gibt keinen Blickkontakt. Jeder ist allein für sich. Die Nacht können sie derart exponiert und ausgelaugt nicht überleben. Hilfe gibt es keine. Nun also doch das Todesurteil. Über eine Stunde hält Simon das Seil, spürt, wie sein Sitz nachgibt. Es ist eine Frage der Zeit, bis er abstürzt und Joe mitnimmt. Da erinnert sich Simon an ein Taschenmesser im Rucksack. Er fummelt es heraus, lässt es beinahe fallen, klappt es mit den Zähnen auf. Er kappt das Seil. 

Diese Szene wurde später viel diskutiert, in Kletterkreisen und Ethik-Seminaren. Oft wurde das Drama auf diese plakative Situation verkürzt und über Simons Verhalten Gericht gehalten: Na, hättest du das Seil auch durchgeschnitten? Joe sagt, er hätte im umgekehrten Fall ebenso gehandelt. Angesichts von Simons Auf­opferung und des unglaublichen Risikos, das er bereits eingegangen war, ist die Diskussion lächerlich. Im Buch schildern beide ihre Gedanken und Emotionen sehr ehrlich – Pflichtlektüre für alle, die diese Geschicht­e wirklich durchdringen wollen.

Simon gräbt an Ort und Stelle eine Schneehöhle und biwakiert – dehydriert, erschöpft, halb erfroren. Am Morgen umgeht er die Klippe und entdeckt entsetzt die Gletscherspalte. Er sucht und ruft nach Joe. Keine Spur. Joe ist tot. Simon macht sich auf den Weg zum Basislager.

Joe Simpson fällt. Von seiner freihängenden Position unter der Klippe hinunter aufs Eisfeld, und weiter in die Spalte. Nach etwa 30 Metern stoppt ihn eine Schneebrücke in der Eiskluft. Er kommt zu sich, überrascht, dass er noch lebt. Er zieht am Seil. Es fällt herab und Joe starrt auf das abgeschnittene Ende. Er versucht aus der Spalte zu klettern. Keine Chance. Joe wartet. Als der Tag anbricht, beginnt er nach Simon zu rufen. Er ruft stundenlang. Keine Antwort. Joe ist allein. Hat er überlebt, um nun hier, in einer schummrigen Gletscherspalte, zu sterben?

»Joe spürt, wie der Erschöpfungstod sich anschleicht, sich anbietet als Ausweg aus dem Horror.«

Simon erreicht das Basislager. Richard päppelt ihn mit Schokolade auf, packt ihn in seinen Schlafsack. Simon ist physisch und psychisch am Ende seiner Kräfte. Joe trifft eine Entscheidung. Nach oben geht es nicht, langsam sterben auf der Schneebrücke will er auch nicht. Es gibt nur einen Weg: hinab in die Spalte. Das ist nichts, was man je in einer Bergsteiger­ausbildung gelehrt hätte. Joe beginnt sich abzuseilen. Den obligatorischen Knoten am Seilende, der ein Durchrutschen und Abstürzen verhindert, hat er nicht gemacht. Ist das Seil kürzer als die Spalt­e tief, soll es wenigstens schnell gehen.

»Ich fühlte mich wie gelähmt, unfähig zu denken, in Wellen der Panik. Die Qual der Vorahnung auf etwas Unbekanntes und schrecklich Beängstigendes brach aus mir heraus, und für eine hilflose, unermessliche Zeit hing ich zitternd am Seil, meinen Helm an die Eiswand gepresst und meine Augen fest geschlossen.«

Als er die Augen öffnet, sieht er Grund. Es ist nicht der Boden der Spalte, nur eine weitere Schneebrücke. Aber Joe entdeckt eine Rampe aus eingewehtem Schnee, die bis zum oberen Rand der Spalte reicht. Er sieht Sonnenlicht. Eine Chance. Wie auf rohen Eiern arbeitet sich Joe die fragile Rampe hinauf. Es dauert Stunden. Dann steht er, gestützt auf seinen Pickel und das gute Bein, auf dem Gletscher. Man wünscht sich beim Lesen so sehr, dass Joe nun gerettet ist, aber das Martyrium ist lange nicht zu Ende. Joe muss das Basis­lager erreichen, über Eis kriechend, über Geröllfelder stolpernd. Hungernd, dehydriert, mit zerborstenem Bein, mental am Ende. Joe kriecht und stolpert drei Tage und drei Nächte. Er spürt, wie der Erschöpfungstod sich anschleicht, sich anbietet als Ausweg aus dem Horror. Er halluziniert, kommt wieder zu sich, verdrängt die Frage, ob Simon und Richard überhaupt noch im Lager sein werden. 

In der achten Nacht nach dem Aufbruch langt er buchstäblich in die Scheiße. Es ist die Latrine des Basislagers. Joes Geschichte fehlt tatsächlich jeder Glamour. Ein fassungsloser Simon findet ihn dort. Joe hat über 20 Kilo Gewicht verloren, ist mehr tot als lebendig. Simon und Richard packen ihn auf einen Esel Richtung Tal. Tage vergehen, bis Joe ein Krankenhaus in Lima erreicht – und dort wird er zunächst nicht behandelt: Erst muss die Kostenübernahme geklärt werden.

Die Geschichte macht die Runde in der Bergsteigerszene, Simon wird wegen des gekappten Seils hart kritisiert, was Joe furchtbar findet. Ein Freund empfiehlt Joe, alles so aufzuschreiben, wie es passiert ist. Joe setzt sich hin und schreibt »Touching the void«, bis heute das eindringlichste Buch der Expeditionsliteratur. Er widmet es Simon: »Für eine Schuld, die ich nie ­zurückzahlen kann.« 

Sturz ins Leere, Portrait Joe Simpson

Joe Simpson ist heute Autor und Redner. Zuletzt erschien sein Roman »Walking the Wrong Side of the Grass« (Kindle, Englisch)

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Cover Globetrotter Magazin 36 Fjällräven Polar
Dieser Beitrag ist Teil des

Globetrotter Magazin 36, Herbst/Winter 2025

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