Nordsee: Inselhüpfen mit Rad

Wasser, Watt und Weite – eine spritzige Variante des Nordseeküsten-Radwegs führt über das nordfriesische Dreigestirn Föhr, Amrum und Sylt.

Norbert Eisele-Hein

Als ich noch zur Schule ging, wohnte bei uns in der Straße ein Student. Der hatte immer ein Surfboard auf seinem VW-Käfer. Und so einen komischen Aufkleber auf der Heckklappe. Sah aus wie ein Klecks. Irgendwann fragte ich ihn. 

»Junge, das ist meine Heimat – die Insel Sylt«, erklärte er mir damals strahlend. Später, als meine ersten eigenen Reisen mit Interrail anstanden, hatten wir sogar mal einen Trip in den deutschen Norden angedacht. »Nö, wenn wir schon 1000 Kilometer fahren, dann lieber in den Süden! Da sind die Strände doch viel besser«, meinten meine Kumpels. So viel vorweg: Was für eine Fehleinschätzung!

Norbert Eisele-Hein

Friedrichstadt. Mit ein paar kurzen Pfeiftönen entlässt uns die vollautomatische Tür der Regionalbahn in den Morgen. Eigentlich wollten wir gleich durchstarten nach der langen Fahrt, aber das wäre eine Sünde. Friedrichstadt ist ein Gesamtkunstwerk. 1621 haben Holländer das Städtchen am Zusammenfluss von Eider und Treene gegründet. Und mit seinen Grachten sieht es hier tatsächlich aus wie in Amsterdam. Es waren Remonstranten, deren Auslegung des Protestantismus in Holland verboten war. Unter Herzog Friedrich III. galt damals Religionsfreiheit, die noch weitere Glaubensgemeinschaften anzog. Sie dankten dem toleranten Herrscher mit dem Aufbau einer florierenden Handelsgemeinde. Davon zeugen die Patrizierhäuser mit ihren Treppengiebeln, die verspielten Bogenbrücken über die Kanäle und natürlich jede Menge Kirchtürme noch heute.

Der Nordseeküsten-Radweg ist der längste beschilderte Radweg der Welt. Wir nutzen ihn als Grundgerüst.

Wir strampeln los Richtung Halbinsel Eiderstedt. In Witzwort treffen wir eine Gruppe Handwerker auf der Walz. Sie verabschieden gerade einen Tippelbruder in die weite Welt. Vergraben eine Buddel Rum und ein paar Flaschen Bier unweit vom Ortsschild, auf dass der Geselle bei seiner Rückkehr nicht dürsten muss. Wenige Kilometer weiter treffen wir auf den Nordseeküsten-Radweg. Der führt über 6000 Kilometer durch sieben Nordsee-Länder und ist der längste beschilderte Radweg der Welt. Wir nutzen ihn fortan als Grundgerüst für unsere Tour zu den Nordfriesischen Inseln. 

In Husum sehen wir das Meer zum ersten Mal. Ein quirliger Hafen, daneben prächtige restaurierte Bürgerhäuser – auch Husum verdient eine ausgedehnte Pause. Zumal die bunten Restaurantkutter hier Brötchen mit frisch gepulten Krabben, Labskaus und allerlei Fischspezialitäten anbieten – dazu  lauschen wir den alten Friesen beim Schnack auf Plattdeutsch. Wir dürfen aber die letzte Fähre nach Pellworm nicht verpassen.

Mühelos mit Rückenwind

Pellworm wurde bei der Flutkatastrophe am 12. Oktober 1634, der sogenannten »Groten Mandränke«, von Nordstrand abgetrennt. Die Wasserstraße dazwischen ist tückisch seicht. Nur durch einen 2,5 Kilometer langen Tiefanleger kann die Fährverbindung tiden-unabhängig aufrechterhalten werden.

500 Leihräder, 80 Kilometer kaum befahrene Straßen, drei Kirchen, ein Polizist: Kein Zweifel – die Insel ist ein Radfahrerparadies.

Hauptattraktion ist der Leuchtturm an der Südspitze. Hier geleitet Kapitän Wilfried Eberhardt jährlich über 300 Paare in den Hafen der Ehe. Manchmal gibt es sogar vier Trauungen täglich. Das winzige Behelfsstandesamt im Turm gilt somit als eines der emsigsten der Republik.

Wieder am Festland lautet der Kurs hart Nord. Bläst der Wind zu heftig von West, weichen wir von der Deichspitze weg und fahren im Windschatten des Bollwerks. Beim Beltringharder Koog fällt die Alternative allerdings für geraume Zeit aus. Bei den Kögen, riesigen Staubecken auf der landzugewandten Seite des Deichs, plätschert die Nordsee auf beiden Seiten des schmalen Grats. Der Radweg scheint sich schnurstracks durch das offene Meer zu fräsen – mit Rückenwind ein erhabenes Gefühl, fast mühelos gleiten wir in Richtung Horizont.

Hamburger Hallig  

Wir biegen für einen kurzen Abstecher in Richtung Westen zur Hamburger Hallig. Die Halligen sind ein einzigartiges Naturphänomen und gelten als Relikte des Festlands. Die Höfe stehen auf leicht erhöhten Hügeln, den Warften, und sind durch Sommerdeiche vor der Flut geschützt. Bei Sturm aber werden diese Deiche regelmäßig geflutet. Die Höfe schwimmen dann rein optisch direkt auf dem Meer. Gleichzeitig spült so eine Flut auch wieder neues Landmaterial an. Ein ständig bedrohter Alltag im Rhythmus der Gezeiten. Die Hamburger Hallig ist die Einzige, die auch mit dem Fahrrad angesteuert werden kann.

Wieder zurück rollt der Asphalt prima, doch die Route dreht leicht westlich, der Wind leicht nördlich. Eine heftige Mischung. Gerade noch sind wir über den Deich geflogen, doch jetzt radeln wir bis Dagebüll gegen eine Wand. Ein Blick auf die Deichschafe erleichtert die Sisyphos-Hamsterrad-Tretmühle. Bläst es von hinten in die Wolle, gleichen sie einem Punk mit Irokesenschnitt oder einem explodierten Wattebausch. Gerade noch rechtzeitig erreichen wir in Dagebüll die Fähre nach Wyk auf unsere erste richtige Insel Föhr.

Eine richtige Insel

Boldixum, Wrixum, Midlum – die Dorfnamen erinnern unweigerlich an Asterix und Obelix. Und Nieblum sieht obendrein noch aus wie ein kleines, unbeugsames friesisches Dorf: Backsteinbauten mit Reetdächern, blühende Geranien am Fenster, alles stilvoll rausgeputzt. Der Tourismus boomt – doch das war beileibe nicht immer so. Im 17. und 18. Jahrhundert lebten die Föhringer überwiegend vom Walfang. Im Frühjahr zogen die seetauglichen Männer, darunter zwölfjährige Jungen, zum Walfang nach Grönland und kehrten erst im Herbst wieder zurück. Unsere große Inselrunde führt auch an der Kirche Sankt Laurentii vorbei. Dort auf dem Friedhof zeugen die Inschriften der Grabsteine noch von diesen harten Zeiten. Besonders spannend: das Epitaph des »Glücklichen Matthias«.Schaffte er es doch, in 50 Grönland-Sommern 373 Wale zu erlegen und damit einen erklecklichen Reichtum zu erwirtschaften. Damals war er ein Held, heute hätte er Ärger mit Greenpeace.

Nach gut 20 Kilometern führt die Radrunde an Stelly’s Hüüs vorbei. Die museumsreife Kate wurde zu einem gemütlichen Café umfunktioniert. Die selbst gemachten Torten und der Friesentee mit Kandis schmecken legendär. Zurück im Süden steuern wir beim Leuchtfeuer Kedewun direkt an den Strand. Fester, weißer Sand. Kein Rummel à la Rimini. Nichts wie raus aus den Rad-latschen und rein in die Fluten. Das Wasser ist zwar etwas frisch, aber sauber. Die Nordfriesischen Inseln gehören alle zum Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, der auch für die Wasserqualität Sorge trägt. Danach fläzen wir uns in die typischen Strandkörbe, lassen windgeschützt das Salz auf unserer Haut trocknen. In der Nacht kommt ein ordentlicher Sturm auf. Als wir uns am nächsten Morgen in den Sattel schwingen, haben sich doch tatsächlich einige Mini-Sanddünen in der Fußgängerzone von Wyk gebildet.

Watt, Wald, Heide, Dünen – Amru­­m fordert vom Radtouristen unbedingt eine Doppelschleife.

Ab nach Amrum. Schon von Weitem sehen  wir den riesigen Leuchtturm von Großdün in seinem rot-weißen Ringelpulli. Die Möwen weisen uns den Weg. Im Hafen von Wittdün tauchen ein paar verspielte Seehunde auf. Watt, Wald, Heide, Dünen – Amrum fordert vom Radtouristen unbedingt eine Doppelschleife. Zunächst tingeln wir durch die malerischen Weiler Süddorf und Nebel. Jeder Blick ein Postkartenmotiv. Bildschöne Friesenhäuser mit abgewalmten Reetdächern, kleinen Sprossenfenstern, Rundbogentüren – sieht fast aus wie bei den Hobbits.

Wir fahren hoch bis Norddorf, dann geht’s am »Seeweg« wieder retour. Aufgepasst! Dieser ebenfalls vorbildlich ausgeschilderte Radweg hat einige ruppige und rutschige Passagen auf Lager. Konzentration ist angesagt – auch wenn das weite Panorama des Wattenmeers lockt. Zurück in Wittdün wird gewendet, um auf dem »Waldweg« erneut hochzuradeln. Tiefer, schattiger Wald mit der würzigen Note von Heidekräutern und riesigen Kiefern – ist das noch die gleiche Insel? Dazwischen führen schmale Pfade immer wieder an den 15 Kilometer langen und zum Teil über einen Kilometer breiten, einsamen Traumstrand. Das ist Baden und Biken in Perfektion. 

Finale auf Sylt

Die Fähre »Adler Express« schippert uns noch mal volle Breitseite am Kniepsand, dem wahrlich paradiesischen Strandgürtel Amrums entlang und beschert uns atemraubende Einblicke in die steilen Klippen und verspielten Dünen, ehe sie uns in Hörnum auf Sylt wieder ausspuckt. Dort bleibt es karibisch. Es fehlen nur noch die Palmen. Die eigenwillige Klecksform Sylts bietet an der Westseite fast 40 Kilometer feinen Sandstrand – zum Teil gottverlassen.  Bei Rantum flattern zwei gekreuzte Säbel auf einer schwarzen Flagge im Wind. Das ist das Markenzeichen vom Kultrestaurant Sansibar. Prosecco auf dem Tropenholzdeck? Nein, wir kurbeln weiter. Ziehen ein Flaschenbier mit dem Hintern im Dünensand vor. Das geschäftige Westerland lassen wir links liegen. Am Horizont dümpelt ein Krabbenkutter mit seinen weit ausladenden Netzen. Wie in der Werbung. Rotes Kliff, die Uwe-Düne, schnell mal wieder in die Fluten hüpfen.

Norbert Eisele-Hein

Blauer Himmel, 25 Grad und kein Wind – mit jeder Umdrehung verlieben wir uns mehr in Sylt. Doch dann fährt uns ein Privatsender in die Parade: »Halt – keine Chance«, sagt der Security-Mann. »Das komplette Areal wurde für einen Mehrteiler gemietet«, lautet es freundlich, aber bestimmt. Ausgerechnet der Zugang zum letzten Leuchtturm List Ost bleibt uns verwehrt. Es ist ohnehin spät. Auf dem Rückweg fliegen die menschenleeren Dünen nur so vorbei, Heidekräuter reichern die Sauerstoffdusche wohltuend an. In Kampen steigt die Porsche-Dichte kurzzeitig. Sylt kann hier eben beides: Currywurst im Büdchen und Austern mit Schampus.

Über den Hindenburgdamm rattert die Bahn am nächsten Tag zurück ans Festland. Die Stimmung ist irgendwie bedröppelt. Ein letzter Blick auf den eigenwilligen Klecks in der Nordsee. Natürlich haben wir alle diesen Aufkleber in den Packtaschen – damit es nicht ganz so wehtut! 

Text: Norbert Eisele-Hein