Oberstdorf – Nordische Höhepunkte im tiefen Süden

Vor einem die Berge, hinter einem ganz Deutschland: Wir gleiten und wandern durch Oberstdorf, die südlichste Gemeinde der Bundesrepublik – und die schneesicherste.

Frithjof Kjer
Frithjof Kjer

So nah, so mächtig, so verrückt schön. Das Herz weiß nicht recht, ob es hüpfen oder stillstehen soll. Nun gut, es pocht – und der Atem geht schnell und entlässt kleine Wolken in die klare Luft. Es war Zeit, einmal aufzutauchen aus dem meditativen Gleiten und abzuschwingen. Hier auf der Loipe im einsamen Stillachtal hält man selbst beim sportlichsten Langlauf inne, um kurz durchzuschnaufen und diese Kulisse aufzusaugen. Alles andere wäre auch eine Sünde.

Oberstdorf ist die südlichste Gemeinde Deutschlands. Das i-Tüpfelchen der Nation, sagen einige. Andere sprechen von dem Punkt unter dem Ausrufezeichen. Aber was diesen Oberallgäuer Ort noch spezieller macht: Er ist eine Sackgasse. Dort hinten, auf der anderen Seite des eindrücklichen Allgäuer Hauptkamms, liegt der Arlberg. Doch man muss schon die Extreme lieben, um zu ihm vorzudringen. Hier rauscht kein Durchgangsverkehr, hier rauscht die Stillach.

Die Skiflugschanze gilt als statisches Wunderwerk

So läuft oder wandert man mit Gesamt-Deutschland im Rücken und dem Blick tief hinein in den Talschluss. Die Augen steigen auf zu den glatten Flanken des Linkerskopfs, zu den scharfen Kanten der Rotgundspitze und dem imposanten Dreigespann aus Trettachspitze, Mädelegabel und Hochfrottspitze. Das Gebirge macht wundersame Dinge mit einem: Es gibt uns zu spüren, wie klein wir sind – und genau dadurch gewinnen wir innerlich an Größe. Demut ist ein herzerwärmendes Gefühl – und das schadet an diesem klaren Wintertag keineswegs.

Nach der Schleife bei Birgsau (10 Häuser, 1 Kapelle, ­­­­­1 Einkehrmöglichkeit) geht es zurück in Richtung Zivili­sation. Beim gleichmäßigen Gleiten wird einem bewusst, dass nicht allein die Natur für dieses traumhafte Langlauf­erlebnis verantwortlich ist. Mit einer Akribie sind die Strecken gepflegt. Die Loipen wirken wie geschliffen und poliert – wahre Liebe zu den nordischen Sportarten eben.

Ein Stück weiter der Winterwanderweg, direkt am Bach entlang. Wer zu Fuß unterwegs ist, hat schon auch seine Vorteile: Man kann das Tal noch länger genießen – und man kann aufsteigen zum »schiefen Turm von Oberstdorf«, wie die Skiflugschanze von den Einheimischen genannt wird. Gesehen haben sollte man sie schon allein, weil sie architektonisch einmalig ist – ein »statisches Wunderwerk«. Und riesig ist sie obendrein, die dritthöchste der Welt. 72 Meter ragt sie empor – der Schanzenrekord liegt heute bei 242,5 Metern. Beim allerersten Sprung 1950 flog Heini Klopfer noch 90 Meter weit.

Gehen und sehen: ­Auf den 140 Kilometern an Winterwanderwegen gelangt man in einsame Täler und zu lohnenden Einkehrmöglichkeiten.

Der Drang zum Hang und die Liebe zum Nordischen hat bei den Oberstdorfern eine lange Tradition. Die erste Schattenbergschanze entstand schon 1925. Bis zu 60 Männer arbeiteten damals an der Anlage. Es war ein ambitioniertes Projekt und natürlich waren sich die Kritiker sicher, dass das nix wird außer teuer. Nun gut. Ein bisschen was ist es schon, dass die Anlage 1953 Teil der Vierschanzentournee wurde. Dass 1987 zur WM 400 000 Menschen anreisten. Dass Martin Schmitt am 29. Dezember 2000, begleitet von einem kollektiven »Ziiiieeehhh« den Telemark bei 133 Metern setzte. Vier Jahre später sprang Gregor Schlierenzauer auf 145,5 Meter.

Den ersten Schanzenrekord am Schattenberg, den stellte der Müller Gustl mit 35 Metern auf. Ein paar Jahre später wird er wohl hinübergespitzelt haben auf die Sprung­schanze, als er 1930 bei den Deutschen Meisterschaften auf Langlaufskiern zu Gold lief – durch eben jene Wälder, über jene sanften Kuppen und weiten Wiesen, wo wir heute unsere Runden ziehen. Allerdings ein wenig anders gerüstet als einst. Auf der 50-Kilometer-Runde schnallte der Gustl damals zwischendurch ab, zog ein Taschenmesser aus seiner Lodenhose und befreite den Belag seiner Holzskier von Schneeklumpen. Um ihn dann mit Paraffin wieder zu wachsen.

Drei Mal Gastgeber der Nordischen Ski-WM

Die Skisprung-Arena mit ihren fünf Schanzen ist heute nicht nur eine weltweite Berühmtheit, sondern am Fuße des Schattenbergs auch prominent gelegen. Von allen Himmelsrichtungen im Oberstdorfer Talkessel hat man sie im Blick – von vielen der 71 Langlaufkilometer und von vielen der 140 Kilometer an Winterwanderwegen. Auf der wunderschönen Wanderung ins verwunschene Oytal etwa kommt man ihr auf dem Rückweg, wenn man den Kühberg passiert, ganz nahe. Das zu Fuß eröffnet ganz neue Perspektiven und herrlichen Genuss – wie viel Zeit man hat zu schauen. Durch die schneebeladenen Äste hindurch auf Schneck und Seewände, auf die sanften Tierspuren am Boden und die bizarren Eisgebilde am Bach. Der gurgelt und murmelt vor sich hin, als würde er Geschichten erzählen. Vielleicht lohnt es sich ja einmal, genauer hinzuhören …


Oberstdorf – Ein Wintertraum

Anreise
Der Oberstdorfer Bahnhof liegt zentral im Ortszentrum. Übernachtungsgäste mit der Allgäu-Walser-Premium- Card fahren auf den zentralen Buslinien umsonst. Alle Oberstdorfer Loipen werden von dem Skibus angesteuert und sind für Langläufer:innen kostenlos.

Langlauf
Das Oberstdorfer Loipennetz zählt zu den besten weltweit. Zur Auswahl stehen zehn Strecken, darunter die Original-WM-Loipen: 71 km für klassischen Langlauf, 67 km an Skatingstrecken. Ein Rundkurs von einem Kilometer ist dienstags, mittwochs und freitags bis um 20 Uhr beleuchtet. Er liegt am Nordic Zentrum, dem Herzen des Langlaufsports in Oberstdorf. Es ist eine der modernsten Wintersport-Arenen, wo ganzjährig Spitzensport trainiert wird, aber auch Langlaufkurse angeboten werden und man sich im Nordic Café stärken und fachsimpeln kann.

Winterwandern
In Täler hinein, zu Berggasthöfen hinauf oder auf Höhenwegen entlang: Die 140 Kilometer an Winterwanderwegen rund um Oberstdorf sind präpariert und mal sportlich, mal gemütlich.

Mehr Infos unter www.oberstdorf.de


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