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Stille Bergfreude:
Nachhaltiger Tourismus in Vorarlberg

Montafon, eines der beliebtesten Täler Vorarlbergs, setzt bewusst auch auf die Nebensaison, um den Tourismus nachhaltiger zu gestalten und Besucherströme gleichmäßiger über das Jahr zu verteilen. Wer im Frühjahr kommt, erlebt die Region in einer besonderen Ruhe: Während auf manchen Wegen noch Schnee liegt und die ersten Berghütten langsam ihre Türen öffnen, schnüren wir unsere Wanderschuhe und genießen Touren in einer alpinen Landschaft, die ideales Wanderwetter und viel Platz auf den Wegen bietet.

Der Schnee liegt wie Puderzucker auf den Berggipfeln ringsum. Die Wiesen duften nach Wildblumen, und in der Ferne klingen Kuhglocken. Auf dem schmalen Pfad, der sich den Berg hinaufschlängelt, kommen wir langsam ins Schwitzen. Auf einer Lichtung ragen unzählige kleine Steinhaufen empor – von Wandernden aufgeschichtet, um anderen den Weg zu weisen. Ein stiller Beweis für all die Menschen, die zum Muttjöchle wollen, einem 2.074 Meter hohen Gipfel im oberen Teil des Muttkamms in den Rätikonbergen. Doch heute haben wir hier oben noch niemanden getroffen.

Nachhaltiger Tourismus in Vorarlberg

Das Montafon ist ein rund 39 Kilometer langes Alpental im Süden Vorarlbergs. Es liegt zwischen Silvretta, Rätikon und Verwallgruppe – drei markanten Bergketten der Zentralalpen – und ist ein beliebtes Winter- und Wandergebiet. Die Destination ist seit Dezember 2024 mit dem Österreichischen Umweltzeichen für Tourismusregionen zertifiziert und arbeitet auf Basis eines Aktionsplans an der Rezertifizierung 2028. Schwerpunkte sind der Ausbau schneeunabhängiger Angebote sowie der Schutz von Wasser- und Naturräumen. Für klimaverträgliche Mobilität wirbt Montafon gezielt für die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln und informiert vor Ort über ÖPNV-Optionen – ein Kommunikationsprinzip, das Auto- und Flugreisen nicht bewirbt. In der Region laufen zudem konkrete etliche Klimaprojekte. Der Gemeindeverband fördert CO₂-Bindung beispielsweise durch nachhaltige Waldbewirtschaftung. Auch in seiner Außenkommunikation verfolgt Montafon den Anspruch, Werbemaßnahmen so zu gestalten, dass sie mit einem möglichst geringen CO₂-Fußabdruck verbunden sind. Dabei werden bevorzugt Kanäle und Formate gewählt, die ressourcenschonend sind und die Botschaft klimafreundlicher Anreise sowie schneeunabhängiger Angebote unterstützen.

Festessen und fantastische Aussicht

An diesem Morgen im Mai sind wir mit dem Bus nach Silbertal und mit der Montafoner Kristbergbahn auf den Kristberg gefahren. Oben angekommen, gönnten wir uns zunächst Rösti – grob geriebene Kartoffeln, in der Pfanne gebraten und mit Spiegelei serviert – im Panoramagasthof Kristberg, bevor wir den Muttjöchle-Gipfelweg in Angriff nahmen.
Nun stehen wir hier, mitten im Muttwald zwischen Felsbrocken und staunen über unsere Einsamkeit. 

Neben den Fichten ragen Lärchen, Bergahorn, Ebereschen und Tannen in den Himmel. Knapp 30 Prozent der Gesamtfläche Vorarlbergs stehen unter Naturschutz – 18 Prozent davon sind Natura-2000-Gebiete. Dort werden gefährdete Arten überwacht und Maßnahmen zur Verbesserung ihres Lebensraums ergriffen. Der artenreiche Mischwald wirkt Lawinen entgegen und schützt die steilen Hänge mit seinen tiefen Wurzeln vor Erosion.

Nachhaltiger Tourismus in Vorarlberg

An einem von Bäumen gesäumten Ulmenwald machen wir eine kurze Pause, trinken Wasser und lauschen dem Gackern eines Waldhuhns. Wir wandern weiter, vorbei an Blaubeersträuchern und Alpenrosen, in eine offene Landschaft, umgeben von mächtigen Bergen. Über uns ziehen kleine, flauschige Wolken. Am Wegesrand blüht blauer Enzian. Es fühlt sich fast unwirklich an, durch diese Kulisse zu wandern. „Es gibt nichts Fantastischeres als die Berge“, ruft Melanie und beschleunigt ihre Schritte, während ich heimlich den Schweiß von meiner Stirn wische. Mein Stolz lässt es nicht zu, dass sie in diesem Gelände leichter vorankommt als ich. Ein paar Meter weiter entdecke ich ein Schneefeld. Dankbar ziehe ich meine Schuhe aus und tauche die Füße in den kalten Schnee. Melanie ist nur noch ein roter Punkt auf dem Kamm, aber ich kann ihre Freude förmlich spüren. 

Auch mich packt jetzt der Ehrgeiz und kurz darauf stehe ich neben ihr auf dem Gipfel des Muttjöchle. Eine leere Bank neben dem Gipfelkreuz lädt zu einer Pause ein. Der Blick reicht weit ins Silbertal und ins hintere Montafon, wo sich die schroffen Gipfel der Verwallgruppe und der Silvretta aneinanderreihen. Im Nordosten ragen die Zacken des Rätikons empor, im Nordwesten thront die Zimba mit ihren 2.643 Metern – ein markanter Berg, auch bekannt als Matterhorn Vorarlbergs. In diesem magischen Moment umgeben von den mächtigen Gesteinsriesen wird mir wieder einmal klar, wie wertvoll diese Bergwelt ist – und warum es sich lohnt, sie behutsam zu erleben.

Per Anhalter nach Schruns

Wir können uns kaum von der Aussicht losreißen, und es ist schon später Nachmittag, als wir den Rückweg antreten. Wenige Minuten vor der letzten Talfahrt erreichen wir die Kristbergbahn, die uns ins Silbertal bringt – nur um festzustellen, dass der Bus nach Schruns bereits weg ist. Uns bleibt nichts anderes übrig als am Wanderparkplatz nach einer Mitfahrgelegenheit zu suchen.

Das Paar, das mit uns in der Seilbahn gefahren ist, packt gerade sein Auto – und rettet uns. Oxana Schwarze und Alex Schürz aus der Pfalz fahren nach Schruns, rücken zusammen, nehmen ihren Hund auf den Schoß und wir dürfen uns auf die Rückbank setzen. Auf der Rückfahrt erzählen sie von ihrer Tour über den Sonnenkopf, die Wasserstubenalpen und das Hochmoor Wild Ried – und davon, wie sie unterwegs sogar Murmeltiere beobachten konnten.

An unserer Unterkunft, dem St. Josephsheim, verabschieden wir uns. Vor der Herberge stellen wir die Rucksäcke ab, bestellen Käsespätzle und Bier. In der milden Mainacht trinken wir Espresso, lassen den Tag Revue passieren und schauen zu, wie die ersten Sterne am Himmel zu funkeln beginnen.

Milchkaffee und Almwirtschaft

Am nächsten Morgen holen wir frisches Gebäck und Milchkaffee in der Bäckerei und frühstücken im Schatten, während wir auf den Bus warten, der uns zum nächsten Ziel bringt. Mit der Golmerbahn fahren wir von Latschau – direkt neben dem großen Stausee – hinauf in die westliche Rätikon-Kette. Unser Ziel: die Lindauer Hütte auf 1.744 Metern, unter den markanten Gipfeln Drei Türme, Drusenfluh und Sulzfluh, die nicht nur Wandernde, sondern auch Kletterer anziehen.

An der Golmerbahn herrscht kaum Andrang. Wir steigen an der Mittelstation Matschwitz aus und folgen einem schmalen, von wilden Erdbeeren gesäumten Pfad in den Wald. Ein klarer Bergbach kreuzt den Weg – das Wasser eiskalt, frisch aus den Quellen Vorarlbergs. Die Region zählt zu den wasserreichsten in Europa, mit rund 1.900 Litern Niederschlag pro Quadratmeter jährlich und zahlreichen ergiebigen Quellen wie der Lederquelle im Gampadellstal, deren Wasser ganzjährig vier Grad kalt, mineralreich und außergewöhnlich rein ist.

Bald erreichen wir den Maisäß Platzadels, eine jahrhundertealte Zwischenstation der Almwirtschaft. Im Frühjahr und Herbst ziehen die Bauern ihr Vieh hierher, wenn die Talwiesen gemäht, die Hochalpen aber noch nicht erreichbar sind. Die kleinen Holzhäuser mit Ställen und Windschutz prägen das Bild. Auf der Weide trinken Kühe an einer Quelle, ein paar Pferde tun sich am Gras gütlich. Weiter geht es zur Alpe Latschätz auf 1.800 Metern, seit Jahrhunderten Sommerweide für Rinder und Jungtiere, mit Alphütten im typischen Montafoner Stil.

Auf dem Latschätzer Höhenweg umgeben uns blühende Almrosen, die Gipfel werden höher und weißer. Plötzlich tauchen die zerklüfteten Drei Türme vor uns auf – ihr Anblick ist so eindrucksvoll, dass er uns kurz den Atem nimmt.

Geschichten aus der Hütte

Angekommen in der Lindauer Hütte empfängt uns zunächst ein großer Bildschirm mit aktuellen Wetterdaten – kurz darauf Nadja und Stefan Körbele, die die Hütte vom Alpenverein gepachtet haben. „Das Wetter bestimmt hier oben den Tag – und ist oft unberechenbar. Selbst im Sommer hatten wir schon 15 Zentimeter Neuschnee“, erzählt Nadja. Viele Gäste fragen nach sicheren Routen, Gewitterwarnungen oder Wegen, die sie bei Regen meiden sollten. „Wir geben unser Bestes, damit niemand falsch abbiegt.“

Nadja arbeitet seit ihrer Jugend auf Hütten. Als diese nach der Pandemie frei wurde, kündigten sie und Stefan ihre Jobs und übernahmen. „Uns ist wichtig, dass sich alle wohlfühlen – wie in einer großen Familie. Durch die Abgeschiedenheit rückt man enger zusammen. Manchmal bin ich es, die Gästen eine Geburt in der Familie überbringt – übers Festnetz, weil es kaum Mobilfunk gibt. Einmal suchte die Polizei einen Gast, dessen GPS-Signal ein paar hundert Meter vor der Hütte endete – während er längst bei uns mit einem Glas Wein saß“, lacht sie.

Zum Schutz der Natur gelten hier klare Regeln: Gäste bleiben auf markierten Wegen, Duschen sind nur gegen Gebühr nutzbar, um Wasser zu sparen. Schlafsäcke bringt man selbst mit oder leiht sie vor Ort, Müll wird ins Tal zurückgetragen. „Viele fragen, warum wir keine Mülleimer haben – aber genau das gehört zu unserem Konzept.“

Nachhaltiger Tourismus in Vorarlberg

Im Garten der Alpen

Auf der Terrasse gönnen wir uns einen Drei-Türme-Teller mit Mozzarella-, Spinat- und Tomatenknödeln. Auf der Karte steht auch Enzianschnaps. „Ist das nicht eine geschützte Pflanze?“, fragt Melanie. Die Antwort finden wir gleich nebenan: Der Alpengarten an der Lindauer Hütte, bereits 1907 angelegt, zeigt alpine Pflanzenarten und dient ihrem Erhalt.

Monika Schwämmle und Brigitta Schiefenhofer betreuen den Garten seit zehn Jahren ehrenamtlich. Sie erklären, dass die Hütte auf einer Seitenmoräne aus Kalkstein steht, die ein Gletscher vor rund 8.000 Jahren hinterließ. In den Beeten entdecken wir blaue Enziane. „Weltweit gibt es etwa 500 Enzianarten, in den Alpen rund 40, die meisten mit blauen Blüten und unter Naturschutz“, sagt Brigitta. Enzianschnaps aber wird aus den meterlangen Wurzeln des Gelben Enzians gewonnen – einer bitteren Heilpflanze, die seit der Antike gegen Magenbeschwerden genutzt wird.

Der Alpengarten hilft, Pflanzen aus der Wanderung wiederzuerkennen. So entdecke ich Berg-Baldrian und Süßklee, die seit Jahrhunderten in der Berglandwirtschaft Verwendung finden. „Viele wollen Edelweiß sehen“, erzählt Brigitta. „Es kam nach der Eiszeit aus der zentralasiatischen Steppe in die Alpen und ist heute vielerorts bedroht. Mit dem Alpengarten wollen wir zum besseren Verständnis und Schutz alpiner Flora beitragen.“

Nachhaltiger Tourismus in Vorarlberg

Das Pfeifen der Murmeltiere

Am späten Nachmittag machen wir einen Abstecher zu den Drei Türmen. Die Gipfel sind noch tief verschneit – zu viel für eine sichere Besteigung. Vielleicht ist es auch deshalb in der Lindauer Hütte so ruhig. Wir setzen uns auf einen Stein, nehmen unsere Schnitzwerkzeuge und arbeiten mit Blick auf die massiven Felswände. Ein Warnpfiff hallt durch die Stille. „Ein Murmeltier“, sagt Melanie. Wir sehen keines, wissen aber sofort, was wir schnitzen wollen.

Als es kühler wird, lockt die aufgeheizte Sauna. Es riecht nach Tannennadeln und warmem Holz. Bevor wir schlafen gehen, teilen wir uns aus Neugierde einen Enzianschnaps, der moosog und extrem bitter schmeckt. Draußen zieht ein Gewitter auf, wir kriechen in unsere Schlafsäcke. Inmitten der Berge, geschützt in der Hütte, ist es überraschend heimelig während über uns ein Unwetter mit Donner und Blitz tobt. 

Am nächsten Morgen treffen wir Nadja am Frühstücksbuffet. „Heute Nacht hat der Blitz unsere Nachbarhütte Kühboden getroffen. Sie ist komplett abgebrannt“, erzählt sie uns. Zum Glück war sie unbewohnt – die Kühe der Sommerweide kommen erst im Juni. Ein eindrückliches Beispiel dafür, wie eng Natur, Witterung und Almwirtschaft hier oben miteinander verbunden sind.

Schneller Abstieg

Draußen hängt Nebel in den Bergen, die Luft ist kühl. Wir ziehen die Jacken enger, schultern unsere Rucksäcke und treten den Abstieg an. Schritt für Schritt lassen wir die Bergwelt hinter uns. Leichter Regen setzt ein, doch der Fichtenwald schirmt die Tropfen noch von uns ab.

Wir gehen schweigend, denken an die letzten Tage. Früh im Jahr war nicht alles möglich, doch wir hatten vieles für uns allein – und jede Begegnung fühlte sich intensiver an. Der Weg schlängelt sich ins Gauertal, vorbei am glitzernden Gauerbach. Je tiefer wir kommen, desto sanfter wird die Landschaft, bis wir zwischen Wiesen und Höfen nach Latschau gelangen, wo der klare Stausee das Ende unserer Tour markiert.

Ich schließe die Augen und sehe die Berggipfel wieder vor mir – ein Stück Natur, das es zu unbedingt bewahren gilt. Vielleicht auch, indem man es besucht, wenn die Wege ruhen und die Natur Zeit hat, sich zu erholen. Damit auch kommende Generationen diese stille Schönheit erleben können.

Text: Karen Hensel
Fotos: Melanie Haas


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