Simon Gietl zählt zu den versiertesten Bergsteigern aus dem Alpenraum. Am 6660 Meter hohen Meru im indischen Teil des Himalayas gelang dem Südtiroler dieses Jahr eine imposante Erstbegehung. Ein Gespräch übers Höhenbergsteigen, Erstbesteigungen, die Vorteile leichter Ausrüstung und die neue Trailrunning-Kollektion »All Terrain Running« von Lowa.
… ist leidenschaftlicher Alpinist sowie geprüfter Ski- und Bergführer. In den heimischen Dolomiten hat er so einige Kletterrekorde aufgestellt. 2016 wurde er mit dem »Grignetta d’Oro« als bester Alpinist Italiens ausgezeichnet. Um sich für seine extremen Bergtouren fit zu halten, schnürt der Südtiroler regelmäßig seine Laufschuhe und erkundet die Trails seiner Heimat. Zuletzt war er an der Entwicklung der neuen Trailrunning-Kollektion »All Terrainn Running« kurz ATR von Lowa beteiligt. Der bayerische Spezialist für Alpin- und Outdoorschuhe hat in diesem Jahr erstmalig drei Modelle für das Trailrunningsegment auf den Markt gebracht. Dabei unterstützte Simon Gietl den Traditionsschuster bei sämtlichen Entwicklungsschritten, vom ersten Prototyp bis zum fertigen Trailschuh. Drei Jahre Entwicklungszeit stecken in den Modellen Fortux, Amplux und Citux.
Gietl, Maynadier und Schäli konnten bei ihrer Meru-Peak-Expedition erfolgreich eine neue Route eröffnen.
Niemand hat sie je alle gezählt, die Sechstausender im Himalaya. Ihre Zahl dürfte sich im oberen Hunderterbereich bewegen. Wieso hast du dich bei deiner Himalaya-Expedition in diesem Jahr gerade für den Meru im westlichen Himalaya entschieden?
SIMON GIETL: Der Film »Meru – Klettern am Limit« über den amerikanischen Alpinisten Conrad Anker und seine Meru-Besteigung auf einer anderen Route hat diesen einsamen Himalaya-Gipfel in den letzten Jahren immer wieder in den Fokus der internationalen Kletterszene bracht. Ankers Expedition 2008 glich einer Odyssee: Stürme, Kälte, … der Berg verlangte Anker und seinen Kameraden Jimmy Chin und Renan Ozturk alles ab. Roger Schäli und Mathieu Maynadier starteten 2021 einen Versuch an der Südostwand des Meru. Auch sie kämpften mit dem Wetter. Der Gipfel blieb ihnen beim ersten Versuch verwehrt. Doch sie wollten zurückkehren. Einige Monate vor unserer Expedition hat mich Roger dann angesprochen. Immer wieder schwärmte er von der Südostwand links neben dem legendären Gipfel mit der Form einer Haifischflosse. Da musste ich nicht lange überlegen. Ich war bereits drei Jahre zuvor im dortigen Basislager gewesen – bei meiner Erstbegehung am Nachbargipfel Shivling (6543 m).
Der Fokus der Medien liegt beim Höhenbergsteigen nach wie vor eher auf den Achttausendern. Was ist für dich der Reiz an einem Sechstausender wie dem Meru?
Ganz ehrlich: Wenn ich mich für ein Kletterprojekt entscheide, steht die Gipfelhöhe für mich an letzter Stelle. Während der Planungsphase habe ich viele Gespräche geführt, mir viele Bilder angesehen. Die genaue Höhe war dabei nebensächlich. Vielmehr hat mich die Herausforderung der Wand interessiert, die ästhetische Linie und die natürliche Schönheit des Berges. Ich persönlich fände es schade, wenn ich den Berg allein über die Höhenangabe definieren würde. Meine Mentalität ist eine andere. Der wahre Reiz liegt für mich in den gemeinsamen Erlebnissen in einem tollen Team, in den Herausforderungen, in den Abenteuern in fremden Ländern und in der Freude am Klettern. Eine Erstbegehung ist dann alpinistisch gesehen die Kirsche auf der Sahnetorte.
Apropos Abenteuer: Beim Stichwort Himalaya denken viele zunächst an Nepal, nicht an Indien. Wie hast du die Region rund um den Meru und den Gangotri-Gletschers erlebt?
Diese Gegend ist wirklich beeindruckend. Der Gangotri-Gletscher zählt zu den größten im Himalaya und hat eine religiöse Bedeutung im Hinduismus. Das Gletschermaul gilt als Quelle des heiligen Flusses Ganges. Der Ort Gangotri, von dem jedes Jahr viele Hinduisten zur Quelle des Ganges pilgern, liegt auf über 3000 Metern Höhe. Auch Gangotri selbst gilt als heilige Stätte. Der Ort ist reich an Kultur und Spiritualität, und es ist erstaunlich zu sehen, mit welcher Hingabe die Menschen ihre Religion leben. Unglaublich, mit welcher Überzeugung die Menschen an der Quelle im eiskalten Wasser stehen.
Die Region ist also auch für Otto-Normal-Bergsteiger interessant?
Mit etwas Bergerfahrung, Abenteuergeist und entsprechender Kondition durchaus. Die Gangotri-Region ist eine Insider-Perle, der Weg ins Basislager eine beeindruckende, anspruchsvolle Trekking-Route. Ab der Gangesquelle absolut einsam, aber auch nicht ganz ungefährlich. An den Gletschermoränen droht immer wieder Steinschlag. Und der Wechsel zwischen Affenhitze und eisigen Temperaturen passiert oft sehr rapide.
Klingt nach einer spannenden Unternehmung. Lass uns über die eigentliche Expedition sprechen. Welche Herausforderungen gab es bei der Besteigung des Meru?
Abenteuerlich wurde es schon auf dem Weg ins Basislager. Um unsere Kräfte für die Gipfelbesteigung zu schonen, hatten wir Träger angeheuert. Das Sherpa-Team war in dieser Zusammensetzung noch unerfahren. Einige waren nur minimalistisch ausgerüstet. Auf dem Weg wurde es zunehmend kälter, und viele hatten mit den Höhenproblemen zu kämpfen. Im Basislager angekommen, stiegen wir nochmals einen Teil des Weges ab, um den Trägern zu helfen. Abends am Lagerfeuer stellte sich heraus, dass immer noch zwei Träger fehlten. Wir schickten den Sherpa-Chef mit seinen stärksten Kollegen zurück, um die Vermissten zu suchen. Völlig entkräftet und halb erfroren kamen sie im Basislager an. Wir verbrachten die halbe Nacht damit, sie mit heißem Tee wieder halbwegs aufzupäppeln.
Und wie ging es weiter?
Wir waren fast viereinhalb Wochen unterwegs. Das Wetter war lange Zeit nicht auf unserer Seite. Fast jeden Tag gab es Niederschlag, Sturm. Gegen Ende tat sich dann doch ein Schönwetterfenster auf. Drei Tage blieben uns Zeit vor der nächsten Schlechtwetterfront. Also, los! Gerade jetzt ging es Mathieu nicht gut. Er kämpfte mit Darmproblemen und Durchfall. Roger und ich hatten Mühe, ihn und seine Ausrüstung ins Lager 2 zu bekommen. Während Roger und ich am Tag darauf im unteren Teil der Wand eine Spur durch den Schnee legten und weiter oben Kletterseile fixierten, konnte sich Mathieu einen Tag im Lager 2 erholen. Einen Tag später stiegen wir zu Dritt ein.
Eure Route gilt als sehr anspruchsvolle Mixed-Kletterei. Was waren die Herausforderungen?
Mixed-Klettern bedeutet kombiniertes Klettern. Wir hatten im Wechsel Abschnitte mit Fels, Eis und Schnee. Also kletterten wir mit Steigeisen und Pickel, die wir in Leisten und Rissen platzierten. Nächste Schwierigkeit: An einem Tag ist die Route unmöglich zu schaffen. Wir mussten in der abschüssigen Wand übernachten. Es war bereits acht oder neun Uhr abends, und immer noch war kein Biwakplatz in Sicht. Die letzte Seillänge kletterten wir mit Stirnlampen. Da entdecken wir einen großen Schneepilz. Wie ein Balkon ragte er aus der Wand. Hier konnten wir unser Zelt aufbauen. Für ein Wandbiwak sehr komfortabel. Ganz geheuer war uns der Lagerplatz aber nicht. Was wäre, wenn der Pilz unter unserem Gewicht plötzlich in die Tiefe rauscht? So blieben wir die ganze Nacht gesichert am Seil.
Kann man so überhaupt schlafen?
Den ganzen Tag in der Wand zu klettern ist nicht nur eine enorme körperliche Belastung. Das zehrt auch mental. Das Zelt gibt einem dann ein gewisses Gefühl von Geborgenheit. Es blendet die vertikale Welt eine Zeit lang aus. Und dann kommt es natürlich auch aufs Team an, ob es gelingt, ein wenig Gemütlichkeit aufkommen zu lassen. Ich hatte dazu extra ein Stück Südtiroler Käse in meinen Rucksack. Welch ein Hallo, als ich die Überraschung rauszog!
War die gute Stimmung im Team also auch eine Voraussetzung für euren Klettererfolg?
Auf jeden Fall! Am nächsten Morgen ging es weiter über abschüssige, beinahe glatte Granitplatten. Wir fragten uns ernsthaft, wie soll das weitergehen? Da entdeckten wir eine Verschneidung. Durch ein Loch und einen 18 Meter langen vertikalen Tunnel kamen wir schließlich in gut kletterbares Gelände und erreichten morgens um halb neun den Gipfel.
In dem Tunnel kam ich mir vor wie ein Goldfisch, der durch Steinhöhlen schwimmt. Und schon hatten wir einen Namen für die 800-Meter-Route: Goldfisch! Gefeiert haben wir mit einer Tafel Südtiroler Schokolade. Die hatte ich extra für den Gipfel mitgenommen. Einfach als nette Geste für meine Kletterpartner, als kleines Zeichen der Dankbarkeit, dass sie mich auf die Expedition mitgenommen haben.
Käse, Schokolade, … und jede Menge Kletterausrüstung. Welche Rolle spielt das Gewicht der Ausrüstung für dich auf Expeditionen?
Das Gewicht ist selbstverständlich ein entscheidender Faktor. Leicht unterwegs zu sein, ist immer ein Vorteil. Aber man muss es nicht übertreiben. Unterm Strich versuche ich, meine Ausrüstung stimmig zu optimieren. Für den Rückweg nach Gangotri hatte ich Trailrunning-Schuhe dabei. Der Vorteil: Sie sind oft minimalistisch, leicht, bieten einen sehr guten Grip und eine gute Dämpfung. Ich spare mir dadurch also ein paar Schuhe.
Zu den neuen Lowa ATR-Schuhen hast du eine besondere Verbindung. Du warst an ihrer Entwicklung beteiligt.
Richtig. Als ich den Anruf bekam, ob ich Interesse hätte, habe ich sofort zugesagt. Mein Testteam und ich sind dann unzählige Kilometer in den Bergen unterwegs gewesen und was sofort auffällt: Die Trailschuhe sitzen einfach gut – die Passform ist überragend. Egal, ob auf langen oder kurzen Trails. Diese Rückmeldung gab es durchgehend von allen Nutzern.
Mit drei Modellen steigt Lowa ins Trailrunning-Segment ein. Kannst du sie kurz charakterisieren?
Der Citux ist leicht, kompromisslos, bis ins Detail durchdacht und sehr dynamisch – mir gefiel auch sofort die Optik, das giftige Grün. Das entspricht tatsächlich auch dem Charakter des Schuhs. Der Fortux ist für mich ein absoluter Komfortschuh, der sich besonders für Langdistanzen eignet. Wenn ich also längere Strecken laufen oder gemütlicher unterwegs bin, greife ich gerne auf diesen Schuh zurück. Den Amplux würde ich als Allrounder für vielseitiges Terrain klassifizieren: Er bietet genügend Komfort, bringt aber auch noch genug Speed auf die Trails. Ihn hatte ich auch bei der Meru-Expedition dabei.
Sonst noch etwas, worauf du auf keiner Expedition verzichten möchtest?
Natürlich! Fotos von meiner Familie habe ich immer dabei.
Das gesamte Team feiert die neue Goldfish-Route.
Der Gangotri-Nationalpark im Distrikt Uttarakhand, Indien, erstreckt sich über etwa 2.390 Quadratkilometer und bietet faszinierende Berglandschaften mit Nadelwäldern, alpinen Wiesen und Gletschern. Er beherbergt die Quelle des Gangotri-Gletschers, die den Ursprung des Ganges markiert. Der 1989 gegründete Park beheimatet sogar scheue Schneeleoparden. Auch asiatische Schwarzbären und Braunbären leben hier. Ausgangspunkt für Trekking-Routen in der Region ist die Stadt Harsil.
»Lowa springt mit der ATR-Serie nicht mal schnell auf den Trend Trailrunning auf, sondern hat sich drei Jahre Zeit für die Entwicklung gelassen. Vielleicht hat man diese Ruhe nach 100 Jahren im Wanderschuh-Geschäft.«
TEXT: Christian Penning
FOTOS: Daniel Hug