
Unsere Kolumnistin ist eine Multi-Outdoorsportlerin wie sie im Buche steht und – eh klar – am liebsten an der frischen Luft unterwegs. In der siebten Folge teilt sie mit uns ihr schwieriges Verhältnis zum Bahnfahren.

»Bouldern oder Bahn«. Eine Option aus dem hintersten Loch des Fundbüros, so dachte ich, als die Redaktion mir diese Themen zur möglichen Auswahl stellte. Ich wollte schon »Nö« sagen, war aber zu müde und geschwächt vom Leben. Bouldern. Was lässt sich bitte dazu schreiben? 1, 2, 3. Oh. Plumps. Fehlen noch 82 Zeilen. Fingerspitzengefühl und Geduld, so gar nicht mein Ding.
Bahnreisen. Hm. Im Grunde dem Bouldern ähnlich. Zwei, drei Züge klappen, beim Vierten dann wieder der Dämpfer und die Erdung. Die Bahn hat den Wesenszug, uns Germanen gehörig in Aufregung zu versetzen. Mich übrigens auch das Ministerium für Digitales und Kleinigkeitendiemanunterdentischfallenlassenkannwiediemobilitätswende. Ärger, so heißt es, sei für das Herz so ungesund wie Nikotin. Ich setze mich einem erhöhten Risiko aus, wenn ich über die Bahn schreibe. Ich versuche also meinen Empörialismus einmal zurückzustellen. Natürlich wäre es gut, wenn die Bahn nicht so schlecht wäre, aber: Es muss dunkel sein, um die Sterne zu sehen!
Am 01.01.2023 war ich bei 20 Grad Rennradfahren. Mit weit aufgerissener Jacke und weit aufgerissenem Herzen. Und mit schlechtem Gefühl. Das einzige fluffige Weiß, das ich in jenen Tagen zu sehen bekam, war die Windel, die ich versuchte der Tochter einer Freundin umzulegen, ohne dafür zu sehr getreten zu werden. Ihre kleinen Beine strampelten, ihre Stimme gluckste, ich wischte – und fragte sie stumm: Wenn wir Alten leben wie die Maden im Speck, was wird wohl aus euch kleinen Würmchen? Oder schon aus der Generation, die gerade wieder Interrail entdeckt?
Wir sind alle keine Wunderwuzzis. Wir mögen nicht so gescheit sein wie Musk und Matthäus und nicht so von oben auf die Welt blicken können wie Messner und Merz. Aber wie sehr müssen wir unsere Augen verkleben, um nicht zu sehen, dass unser Umgang mit der Natur ungefähr so rücksichtsvoll ist wie der von Zeus mit Prometheus? Wir sind die Reißwölfe unter den Tieren, die Abrissbirnen unter dem Obst. Wir schütteln über uns selbst den Kopf, steigen zeitgleich in unsere Busse, in unsere SUVs, ich in meinen Caddy. Erdgas immerhin, sage ich mir und rede es mir grün.
»Es muss dunkel sein, um die Sterne zu sehen.«
Ich wurde am Gare de l’Est in Paris von einer spanischen Dame über Francos Regime aufgeklärt, habe im Gepäckwaggon mit einem Eisschnellläufer über Hosensonderanfertigungen gesprochen, im ICE einem Solarexperten gelauscht und in der RB einer Schauspielerin, die als Leiche gecastet wurde. Ich könnte euch viel erzählen und ihr mir sicher auch. Und warum? Weil die Bahn im Gegensatz zum Auto Begegnungen schafft. Weil sie Abenteuer parat hält. Ob wir wollen oder nicht. Was hätte Homer über Odysseus zu schreiben gehabt, wäre der in Troja in den Flieger nach Ithaka gestiegen? Nein, wir wollen nirgendwo zerschellen, auch keine Kameraden und (vielleicht) auch nicht unsere Partner an Nebenbuhler verlieren. Aber wollen wir nicht das Gravel-Bike packen, in den Zug steigen, schlafen bis Bologna oder Zagreb und dann los? Mit dem Faltrad nach Amsterdam, mit dem Rucksack nach Georgien? Wir alle haben berechtigte Angst, dass er schon abgefahren ist, der Zug. Aber vielleicht sollten wir einfach mal einsteigen.
SISSI PÄRSCH ist Autorin, fährt Ski, geht Laufen und Biken. Ursprünglich stammt sie aus dem Allgäu, zahlt viel Miete in München und ist doch meist auf Reisen. Sie mag Bewegung und Menschen sehr gern – genauso wie Kaffee und Einkehren.