Wildnis-Tour in Kanada
Elf Tage mit dem Kanu auf dem Wildfluss. Kein Netz. Keine Straßen. Keine anderen Menschen. Nur Adler, Otter und Bären. Zurück in die Zivilisation geht es allein per Muskelkraft – 200 Kilometer und 76 Stromschnellen den Fluss hinab. Wo gibt es heute noch so eine Wildnis? Unser Redakteur hat sie in Manitoba gefunden.
TEXT UND FOTOS: Julian Rohn-Hippold
Per Wasserflugzeug in die Wildnis. Wie viele Flüsse und Seen es in Manitoba gibt, lässt sich aus dem Flugzeug gut erkennen.
Am anderen Ende des Sees heult die einmotorige »DHC-3 Otter« auf. Der Pilot dreht die Maschine in den Wind und beschleunigt zurück in unsere Richtung. Erstaunlich schnell ist das Wasserflugzeug auf Geschwindigkeit und hebt ab. Eine kurze Schleife über den Baumwipfeln, schon verschwindet die Maschine aus dem Blick. Es wird still – so still wie ich es schon lange nicht mehr erlebt habe. Wir sind allein in der kanadischen Wildnis.
Das Wasserflugzeug hat uns am Artery Lake ausgesetzt, an der Grenze zwischen Manitoba und Ontario. Eine Frau, vier Männer, drei Kanus, fünf Zelte und Essen für zwölf Tage. Von hier aus werden wir dem Bloodvein River folgen – über 200 Kilometer bis zu nächsten Straßenbrücke, zurück in die Zivilisation.
Steve
… stammt aus Australien und ist unterwegs für die Witze zuständig. Es ist seine erste richtige Kanutour.
Judith
… pendelt zwischen Deutschland und Spanien. War bislang eher mit Seekajaks unterwegs.
James
… der zweite Kanadier im Team, aufgewachsen auf einer Farm in Manitoba. Hat eine unendliche Geduld beim Angeln.
Julian
… kommt aus Deutschland und träumt seit seiner Jugend von so einem Wildnis-Trip mit dem Kanu.
Am Felsufer des Bloodvein River stößt man immer wieder auf Zeichnungen der frühen indigenen Bevölkerung.
Direkt am Ende des Artery Lake wartet die erste Stromschnelle. Nicht schwierig, aber mit den schwer beladenen Booten eine erste Prüfung. In einer Linkskurve liegen größere Steine in der Strömung, die unsere Kanus anziehen fast wie Magnete. Wir schaffen es, trocken zu bleiben, merken aber deutlich, dass die Besatzungen noch nicht eingespielt sind. Während unser Guide Garret im Solo-Canadier paddelt, sitzen James und Steve sowie Judith und ich jeweils in Zweier-Canadiern.
Glücklicherweise folgen beim Bloodvein River auf jeden Rapid immer wieder längere Abschnitte, auf denen man durchatmen kann. Und geht es doch einmal schief, finden nach einer Kenterung das Boot, die Gepäckstücke und die Paddler im ruhigen Pool unterhalb der Stromschnellen schnell wieder zueinander. Der Bloodvein River fordert uns in den nächsten Tagen mit Schwierigkeiten bis Wildwasser IV. Das meiste ist aber viel leichter und alle Stromschnellen lassen sich im Zweifel umtragen. Bis zu unserem Ausstieg kurz vor Lake Winnipeg sind 76 Rapids in der Karte verzeichnet.
Vorteil von Kanu-Trips: Man reist und lebt komfortabel, weil ein bisschen mehr Ausrüstung nicht so sehr ins Gewicht fällt.
Seinen Namen verdankt der Bloodvein River einem Streifen rötlichen Granits, der sich auf der ganzen Strecke am felsigen Ufer entlangzieht – wie eine Blutvene. Der Fluss fließt mitten durch das Canadian Shield, einem riesigen Felsschild, das unter anderem große Teile von Manitoba und Ontario bedeckt. Auf dem Fels befindet sich oft nur eine dünne Schicht Humus mit Borealem Wald. In den Senken hingegen sammelt sich das Wasser in Form von Flüssen, Seen und Mooren. Das Verhältnis von Land zu Wasser liegt bei 50/50. Flüsse wie der Bloodvein River waren deshalb lange die wichtigsten Verkehrswege für die nordamerikanischen Ureinwohner und später für die Pelzhändler.
Der Bloodvein River ist inzwischen geschützt im »Canadian Heritage Rivers System« und Teil des Unesco Welterbe »Pimachiowin Aki«, der Heimat der Anishinabe, einer indigenen Volksgruppe, die diese Gegend noch immer bewohnt und nutzt. Seit über 6000 Jahren leben Menschen in dieser Region. Unterwegs stoßen wir auf Spuren. Mal paddeln wir an roten Felszeichnungen vorbei, die Kanus und Adler zeigen. Dann wiederum stehen an Stromschnellen oft Eichen am Ufer, die zwischen den kleineren Strauchkiefern auffallen. Eichen sind in dieser Gegend eigentlich nicht heimisch. Aber zum Dank für eine sichere Passage wurden an diesen Stellen oft Eicheln niedergelegt. Den Rest hat dann die Natur erledigt.
Am Mittag des vierten Tages erreichen wir die kleine Trapperhütte »Stagger In«. Innen herrscht Chaos, anscheinend sind in der letzten Zeit ein paar Tiere eingebrochen. Es gehört aber zum festen Ritual für Bloodvein-Paddler, sich hier im Hüttenbuch zu verewigen. Darin lesen wir, dass nur wenige Tage vor uns eine Familie paddeln muss, von der wir bislang nichts bemerkt haben und auch bis zum Ausstieg keine Spur entdecken werden.
Das nächste Camp schlagen wir nach 25 Kilometern Tagesstrecke direkt neben den »Island Rapids« auf. Beim aktuellen Wasserstand präsentiert sich die Stelle als zwei Meter hohe Rampe mit großer Walze zum Abschluss. Nachdem wir unser Gepäck am Ufer deponiert haben, wollen wir testen, ob dieser wuchtige Rapid auch mit unseren offenen Canadiern fahrbar ist. Es geht ganz wunderbar. Besonders im Zweier ist es aufgrund der Größe und Geschwindigkeit des Bootes ein Erlebnis. Die Schlusswalze hebelt das Boot in die Höhe und schleudert einen fast vom Sitz – ein bisschen wie Fliegen.
Hier wurde länger nicht aufgeräumt. Neben Biberfallen und Schneeschuhen finden wir auch Illustrierte aus dem Jahr 1999.
»Do not run« steht eigentlich im Guidebook zum linken Arm der »Island Rapids«. Bei diesem Wasserstand geht es aber doch … Foto: Garrett Fache
Wieder einmal verschwindet der Fluss über eine Abbruchkante und das schäumende Wasser dahinter lädt nicht dazu ein, dass wir die Stelle unbedingt paddeln sollten. »Break your neck or break your back«, fasst Steve die Situation zusammen. Frei übersetzt: Riskiere Kopf und Kragen beim Versuch, den Rapid zu paddeln oder mache dir den Rücken kaputt, weil du Boote und Ausrüstung übers Ufer schleppst.
Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen. Unsere Boote wiegen leer je 30 Kilogramm – dazu befindet sich in jedem Boot eine bärensichere Tonne mit Essen, ein großer Trockensack mit Küchenausrüstung wie Eisenpfanne, Grillrost, Kocher, Wasserfilter – ein weiterer 70-Liter-Drybag mit Campingausrüstung wie Zelte, Schlafsäcke, Matten und Klamotten – plus wasserdicht verpackte Kameraausrüstung und ein Wassersack. Auch wenn die Verpflegungstonne jeden Tag leichter wird – eine Portage ist immer eine ordentliche Schlepperei.
Pro Tag warten mindestens zwei potenzielle Portagen auf uns, oft mehr. Wir haben dafür mittlerweile vier Eskalationsstufen etabliert. Erstens: Wir paddeln den Rapid mit komplettem Gepäck. Zweitens: Wir fahren mit vollem Gepäck, bringen aber empfindliche Sachen wie die Fotoausrüstung schnell auf dem Landweg zum Ende des Rapids. Drittens: An kritischeren Stellen tragen wir das Gepäck komplett auf dem Landweg, paddeln aber das leere Boot durch die Stromschnellen. Ohne Gepäck steuern sich die Canadier viel besser und wir sparen uns zumindest, die Boote zu schleppen. Viertens: Der Rapid ist so schwer, dass wir uns eine sichere Befahrung nicht zutrauen und alles umtragen.
Einige Portagen sind mehrere Kilometer lang, steil, rutschig oder führen durch dichtes Unterholz. Bereits an Tag zwei haben sich die Gummissohlen meiner alten Trailrunningschuhe gelöst. Ich laufe jetzt nur noch auf der dünnen Brandsohle und rutsche dementsprechend umher. Einmal verliere ich beim Überklettern eines umgestürzten Baumes das Gleichgewicht. Die locker 40 Kilogramm schwere Verpflegungstonne reißt mich erbarmungslos nach hinten. Ich lande einen Meter tiefer wie ein Käfer auf dem Rücken. Zum Glück ist nichts passiert. Ein gebrochener Fuß wäre hier eine ernstere Nummer.
Tag acht auf dem Fluss. Vor uns teilt sich der Bloodvein River in drei Arme. Im Guidebook sind der nördliche und der mittlere Arm beschrieben: leichtes Wildwasser mit ein bis zwei Portagen – je nach Wasserstand. Beim südlichen Arm steht nur: »Unknown channel« – »unbekannter Flussarm«. Passenderweise ist auf der Karte an der Stelle ein kleines Gespenst eingezeichnet. Ist das ein Gag oder eine Warnung?
Auch unser Guide Garrett ist den Abzweig noch nie gepaddelt und hat nichts dazu gehört. Weil wir einen Tag vorm Zeitplan liegen, plädiere ich für eine Erkundungstour. Schließlich sind wir fürs Abenteuer hier. An der Abzweigung grinst mich James aus dem Nachbarboot an und spricht mit deutschem Werner-Herzog-Akzent: »Little do they know, they would paddle into oblivien.« Übersetzt etwa: »Sie ahnten nicht, dass sie spurlos verschwinden werden.« Garrett lacht und ergänzt: »Regel Nummer 1 für diesen Abstecher: Wenn es eine tolle Strecke ist, dann war es die Idee von Julian und mir. Wenn wir in Probleme geraten sollten, war es natürlich nur Julian, der hier unbedingt lang wollte.«
Der unbekannte Arm entpuppt sich als harmlos. Zwei kleine Stromschnellen, die wir auf Sicht paddeln können. Ansonsten mäandert er idyllisch dahin. Wir treffen auf ein Otterpärchen, das sich gerade sonnt und über uns kreist mal wieder ein Adler.
Am vorletzten Abend schlagen wir unser Camp auf einer Lichtung an den »Namay Rapids« auf. Noch immer zaubert Garrett Überraschungen aus den Tiefen der Verpflegungstonnen. Gestern gab es Kürbis-Süßkartoffel-Pizza. Heute steht ein großer Topf »Mac’n’Cheese« auf dem Feuer und wir trinken den letzten Tropfen Rotwein, während die Sonne untergeht. Danach sind alle auf dem Weg in die Zelte, weil jetzt die Mücken aktiv werden. Plötzlich kommt Garret auf die Lichtung gelaufen und ruft »Bär!«. Die ganze Zeit haben wir keine Bären zu Gesicht bekommen. Ich hatte zwischenzeitlich sogar komplett verdrängt, dass hier Schwarzbären leben. Aber als wir vorsichtig mit Kameras (für Bilder) und Töpfen (für Krach) bewaffnet in die angegebene Richtung gehen, ist der Bär längst weitergelaufen.
Wie zum Abschied sitzt am letzten Rapid am letzten Tag noch mal ein großer Adler im Baum. Kurz darauf sehen wir die Brücke. Wir sind einen Tag früher als geplant und mussten uns die letzten Tage schon zurückhalten, um nicht noch früher anzukommen. Dem guten Wasserstand sei Dank haben wir oft deutlich über 20 Kilometer pro Tag geschafft. Über Satellit konnte Garrett unser Shuttle einen Tag früher bestellen. Die Fahrerin reicht uns das erste gekühlte Getränk seit elf Tagen – als wir uns der Zivilisation nähern, rattern Mitteilungen auf mein Handy. Können wir bitte ganz schnell umdrehen?