Dünne Matratze, dicker Nachbar. Kalte Dusche, strenger Geruch. Aufbruch im Morgengrauen, Alpenglühen zum Abendbrot. Warum wir auf Hütten gehen.
Die Frage, warum wir auf Hütten gehen, scheint ebenso schwer zu beantworten wie die Frage, warum wir auf Berge steigen. Unsere Erklärungsversuche aus der Ferne tragen uns nicht weit, weil sie wenig mit der Realität gemein haben. Es ist selten einsam auf einer Hütte, noch seltener romantisch. Die Betten sind voller als im Tal. Die Zimmer haben kein WC, dafür Mitbewohner. Um 22 Uhr heißt es Ruhe bitte – und man ahnt, dass da das Schnarchen nicht dazugehört. Und dennoch. Allein in den 323 Hütten in den Alpen und Mittelgebirgen, die der Deutsche Alpenverein betreibt, übernachten jährlich an die 900.000 Menschen. Was macht die Faszination aus? Was zieht uns aus unserem fußbodenbeheizten Zuhause in die Kargheit? Psychologen, Thoreau und Rousseau könnten hierzu sicher Antworten liefern. Oder man befragt sich selbst und kommt zum Schluss: weil es jedes Mal ein Erlebnis ist, das nicht mehr aus dem Kopf weichen will.
Plumpsklo auf dem Rückzug
Natürlich gibt es Menschen, die das Matratzenlager lieben. Die gerne eingekeilt schlafen, die den Geruchsmix aus Füßen und Schnapsatem als heimelig empfinden und bei wilden Geräuschen besonders schön träumen. Nachts erkennt man sie an ihrem Schnarchen, am Morgen an ihrem aufgeweckten Blick. Während sich der Rest schlaftrunken am Frühstücksbuffet drängt, um gestärkt in den Tag zu starten – beginnend mit der Schlacht um das richtige Paar Wanderstiefel im Schuhraum. Dabei erzählt der Nebenmann, wie er mal mit Schuhen in Größe 38 sitzenblieb, weil jemand mit seinen 43ern schon losgewandert war. Einen weiten Erlebnisraum eröffnet die Modernisierung vieler Hütten. Das Plumpsklo ist auf dem Rückzug, warmes Wasser auf dem Vormarsch. Ebenso privatere Zimmer, dicke Daunendecken und vegane Gerichte. Damit macht man es wieder nicht allen recht. Insbesondere nicht den Aufgeweckten. Über 130 Jahre kauerte beispielsweise das alte Waltenbergerhaus an den steilen Hängen der Allgäuer Alpen. Eine der ältesten Schutzhütten des Deutschen Alpenvereins. Als der Steinbau abgerissen wurde, war der Aufschrei groß. Hüttenwirt Markus Karlinger hat – weise vorausschauend – einen Teil des maroden Mauerwerks bewahrt und in die Flanke des neuen Hauses eingebaut. Wenn nun einer den langen Weg aus dem Birgsautal aufsteigt, nur um über den Verlust des Urigen zu lamentieren, »dann schick ich ihn ums Eck zur Klagemauer«. Vergessen ist das Gejammer spätestens, wenn die Steinböcke in der Dämmerung von den Felswänden der Trettachspitze und Mädelegabel absteigen und aus den Wiesen vor der Hütte eine Showbühne machen. Die Älteren grasen, die Jungen stoßen sich die Hörner ab und bockeln, dass es nur so scheppert. Und der Mensch, der staunt, während die Sonne direkt in seinem Gesicht untergeht. Geschichten, wie sie nur die Hütte schreibt. Der Mikrokosmos Hütte ist gleichzeitig eng und unendlich. Preußische Hüttenruhedisziplin trifft auf bierselige Liederabende (»Du willst dich beim Wirt beschweren? Das ist der mit der Gitarre!«), Bergfex auf Flachlandtiroler (war dann doch ganz sympathisch), der Mensch auf seine eigene Widersprüchlichkeit (sieh an, meine Bio-Limonade bringt der Helikopter).
Eintrag ins innere Hüttenbuch
Der Mensch kann einer Hütte aber auch Seele verleihen. Was (außer sehr hübsch) wäre beispielsweise die Rifugio Bella Vista an der Grenze zwischen Schnals- und Ötztal ohne ihren Wirt Paul Grüner? Er hat aus Versehen den Papst getroffen, Hollywood bewirtet und ein ehemaliges Zollhaus am Gletscher zur Herberge für Selbstversorger gemacht. Er ist herumgekommen in der Welt, von Togo bis Lappland. Aus Finnland importierte er ein Saunafass, stellte es vor seine Schöne Aussicht und begründete so vielleicht die Hütten-Wellness-Bewegung. Vollends erhaben wird die Hüttenerfahrung, wenn die Natur das Entertainment übernimmt. Auf der Santnerpasshütte in Südtirol begrüßt einen zunächst Knödel, der einäugige Kater, dann genügt auf dem Grat hoch im Rosengartenmassiv allein das Schauen. Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, die Zähne und Nadeln der Dolomiten, die mächtigen Massive von Brenta und Ortler. Lichtgeflutete Szenerien, die auf ewig im Gedächtnis bleiben – eingeschrieben ins innere Hüttenbuch.
Aufsteigen, entdecken, sehen
Und dann gibt es noch Hüttengeschichte im historischen Sinn. Im Becherhaus, auf 3195 Metern in den Stubaier Alpen gelegen, hatte man vor 126 Jahren den roten Teppich schon ausgerollt: Die Hütte wurde 1894 am Geburtstag von Kaiser Franz Josef eröffnet und seiner Frau Kaiserin Elisabeth gewidmet – Sisi reagierte mit dem Wunsch, die Hütte zu besuchen. Die letzte Septemberwoche 1898 war als Termin festgesetzt, die Route besprochen und gesichert. Ausreichend sportlich wäre die Kaiserin gewesen – allerdings nicht mehr ausreichend lebendig. Am 10. September 1898 wurde sie in Genf ermordet. Natürlich ist das Ziel einer Berghütte nicht die Beherbergung royaler Gäste, sondern der Schutz der Alpinist:innen. Das motivierte die Menschen 1894, 25 Tonnen Sand, Kalk, Bretter und bis zu 12 Meter lange Balken 1800 Höhenmeter über schwierigstes Gelände zu schleppen, um das Becherhaus zu errichten. Sie taten es, weil die Moderne eine Bergbegeisterung ausgelöst hat. Weil man aufsteigen wollte, entdecken, erklimmen und sehen. 1870 wurde der Alpenverein gegründet für »alle Verehrer der erhabenen Alpenwelt«, die »nur offenen Sinn mitbringen für die unvergesslichen Eindrücke der Hochgebirgsnatur, deren läuternde und verjüngende Kraft«. Den hehren Absichten folgte bald der Reality Check. »An manchen Tagen ging den Wirthschafterinnen die Arbeit über ihre Kräfte«, heißt es im Becherhaus-Bericht von 1895, »was ein kleiner Theil der Besucher nicht einsah«. Beklagt wurden »die eigenthümlichen Anforderungen der Touristen und das rücksichtslose Benehmen vieler Führer«. Die Hütte schreibt ihre Geschichten, ob man will oder nicht. Auch aus unseren eigenen Erlebnissen werden Geschichten. Diese Geschichten erzählen wir uns auf Hütten, während neue Erlebnisse dazukommen. Ein Kreislauf – und wahrscheinlich die beste Antwort auf die Frage, warum wir auf Hütten gehen.