Ein Abenteuerbericht aus der Globetrotter-Community
von Carsten Grüttner.
Der Gedanke schlich sich bei meiner letzten Radtour im Sommer durch den hohen Norden in mein Gehirn wie ein Mückenstich: „Komm doch mal im Winter, dann hast du Ruhe. Keine Mücken. Aber dafür minus 40 Grad!“. Es war ein finnischer Einheimischer, der mir diesen Vorschlag mit einem Schmunzeln unterbreitete, als ich nach einer von Moskitos zerstochenen Nacht meinen Kaffee in einem kleinen Holzhaus genoss. Ich lachte damals, aber irgendwie ließ mich der Gedanke nicht mehr los.
Ein halbes Jahr später stand ich dann mit einem Fatbike, das ich mir gebraucht gekauft hatte, am Flughafen von Rovaniemi. 4,8 Zoll breite Reifen mit Spikes, ein dick wattierter Schlafsack, eine ultrawarme Isomatte und ein gefühlt halber Outdoor-Shop im Gepäck – ich schien bereit für dieses Abenteuer. Die Landebahn war von einem dicken Schneeteppich bedeckt, die Sonne schien milchig durch den polaren Himmel, und in meine Vorfreude mischte sich die leise Vorahnung: Das hier wird kalt. Und anstrengend. Aber vor allem unvergesslich.
Mit Dauerschneefall und Skibrille Richtung Norden.
Begegnung mit dem Weihnachtsmann
Rovaniemi, mit seinen 65.000 Einwohnern, genau auf dem nördlichen Polarkreis gelegen, begrüßte mich mit klirrenden -20° C. Nicht umsonst ist es das offizielle Zuhause des Weihnachtsmannes. Nach dem Zusammenbau des Fahrrads am Flughafen legte ich die ersten Meter im knirschenden Schnee zurück, während ein Langläufer an mir vorbeifuhr, der mich scheinbar belustigt betrachtete. Doch mein erster richtiger Stopp war beim Weihnachtsmann höchstpersönlich. Er saß in einer Hütte der Fußgängerzone und ließ sich dort, gegen ein üppiges Handgeld, mit gut gelaunten Touristen fotografieren. Touristisch, hin oder her, das konnte ich mir nicht entgehen lassen. Als er mitbekam, dass ich mit dem Fahrrad unterwegs war, konnte er es gar nicht fassen, ließ die anderen wartenden Touristen stehen, verließ seine Hütte und wollte mein Rad nicht nur sehen, sondern sich auch damit fotografieren lassen. Beim Abschied wünschte er mir Glück und rief mir noch hinterher: „You are on the good list!“
Treffen mit dem Weihnachtsmann in Rovaniemi.
Mit diesem Segen im Rücken trat ich die erste Etappe an: 50 Kilometer Richtung Norden. Schon bald lernte ich die Tücken des Radfahrens im Winter kennen. Am Abend war an einen Zeltaufbau neben der Straße nicht zu denken, weil sich auf beiden Seiten meterhohe Schneewände auftürmten. Erst eine Stunde nach meiner angepeilten Zeit für das Nachtlager fand ich endlich einen Schneemobil-Weg, der mich zu einer geeigneten Stelle führte. In mühsamer Arbeit buddelte ich mit meinen Handschuhen eine Mulde für mein Zelt – eine Schaufel wäre jetzt praktisch gewesen und fand im Kopf ihren Weg auf meine „Winterreise-Packliste“. Nachdem das Zelt stand, die Isomatte aufgepumpt und der Schlafsack ausgerollt war, kam endlich die Zeit für das Abendessen. Der Benzinkocher zischte, meine Expeditionsnahrung schmeckte wie ein Gourmet-Menü, und während der Schnee leise auf das Zelt rieselte, kroch ich erschöpft in meinen Schlafsack.
Die erste Nacht im Zelt.
Die Morgenroutine: Überwindung pur
Der erste Morgen im Schnee offenbarte mir, was die regelmäßige, wahre Herausforderung der Tour für mich sein würde: der Kampf gegen die Kälte, besonders beim Verlassen des wohlig warmen Schlafsacks am Morgen. Als der Benzinkocher leise zischend den Schnee in heißem Wasser für meinen Pulverkaffee verwandelte und ich den ersten Schluck zu mir nahm, war dies wie ein Funken, der mein Inneres wieder entflammte, eine kleine Flutwelle von Wärme, die langsam durch meinen Körper rollte und Lust auf die Weiterfahrt machte.
Die folgenden Tage waren ein Balanceakt zwischen Anstrengung und Faszination dieser reduzierten, weißen Umgebung. Das Fatbike und die Zuladung brachten mich auch bei leichten Steigungen regelmäßig an meine Grenzen, denn ich lernte schnell, wie wichtig es war, nicht zu schwitzen. Feuchte Kleidung, die in der Kälte blitzschnell gefror, war mein schlimmster Feind. Müsliriegel trug ich körpernah, um sie vor dem Schockfrost zu bewahren. Bei den Pausen schlüpfte ich schnell in meine Daunenjacke, um nicht auszukühlen. Es war ein Tanz mit der Natur – und der Schnee knirschte wie ein leises Lied unter den Reifen.
Bei dieser Kälte schmeckt der warme Kaffee umso besser.
Nordlichtzauber in Tankavaara
Nach einigen Tagen des endlosen Schneefalls erreichte ich Tankavaara, ein ehemaliges Goldgräberdorf aus dem frühen 20. Jahrhundert. Heute ist Tankavaara weniger ein Dorf als ein Restaurant, umgeben von einfachen Hütten und einer Kulisse wie aus einem alten Westernfilm. Das Restaurant beherbergt allerlei Andenken an die Zeit der Goldgräber, inklusive eines Bärenfells an der Wand. Seinen Burger bekommt man in einer alten Goldwaschpfanne serviert! Ich mietete mir für die kommenden zwei Tage eine kleine Holzhütte, in der ein Kamin die eisige Kälte von -31 °C zuverlässig draußen ließ.
Die Unterkunft war einfach, aber behaglich: zwei Etagenbetten, ein schlichter Tisch und der knisternde Kamin, der den Raum in ein warmes, einladendes Licht tauchte. Selbst für mein Fahrrad war genügend Platz. Auch eine gute Gelegenheit, mich in dieser rustikalen, aber inspirierenden Umgebung meiner anwaltlichen Korrespondenz zu widmen – Laptop auf dem Tisch, Internet über den Smartphone-Hotspot und die Signaturkarte, fertig war das mobile Office.
Heimliches Hütten-Feeling in Tankavaara.
Doch der wahre Höhepunkt des Tages wartete noch. Am späten Abend klarte der Himmel endlich auf und bot plötzlich das lang ersehnte Schauspiel. Zuerst war es nur ein schwaches Flimmern, doch dann tanzten die Nordlichter in grünlichen Schleiern über den Himmel. Es war, als hätten die Götter ein Feuer entzündet, und ich stand da, vollkommen überwältigt. Meine Kamera klickte unermüdlich, während ich an die Mythen der Finnen dachte, die das Nordlicht als „Revontulet“ (Fuchsfeuer) bezeichneten, weil man glaubte, dass es entsteht, wenn ein Fuchs mit seinem Schwanz über das Eis schlägt und Funkeln in den Himmel schleudert. In diesem Moment fühlte ich mich so klein und doch so lebendig wie selten zuvor. Tankavaara, mit all seiner schlichten Gemütlichkeit, seinem Goldgräbercharme und dem tanzenden Himmel darüber, wurde zu einem Ort, den ich niemals vergessen werde.
Nordlichter verzaubern den Nachthimmel.
Die Grenzstadt Kirkenes und ein stürmisches Abenteuer
Eine Woche später erreichte ich das norwegische Kirkenes, die letzte größere Stadt vor der russischen Grenze und östlichster Anlegehafen der Hurtigruten-Linie. Dieser abgelegene Ort, nur 15 Kilometer von Russland entfernt, strahlt mit seinen bunten Holzhäusern eine friedliche Gelassenheit aus. Als ich an diesem Abend mein kleines Hotelzimmer bezog, bahnte sich draußen ein ausgewachsener Sturm an. Eine Stunde später rüttelten Windböen von bis zu 90 km/h an den Fenstern, die bedrohlich vibrierten, und ich war unendlich dankbar dafür, diese Nacht nicht draußen im Zelt verbringen zu müssen. Während der Sturm draußen tobte, saß ich in meinem warmen Zimmer, die Heizung summte leise, und ich ließ mich in das weiche Bett fallen. So selbstverständlich wie das zu Hause erscheint, war das hier und heute ein wohliger Luxus, der die Strapazen der letzten Tage wie Schnee in der Sonne schmelzen ließ. Ich hörte den Wind, der die Welt draußen unbarmherzig durcheinanderwirbelte, und dachte daran, wie oft ich in den letzten Tagen dem harschen Wetter ausgesetzt gewesen war. Doch diesmal nicht. Diesmal war ich sicher, und dieses Gefühl war einfach wohltuend.
Kirkenes, die Nähe zu Russland ist spürbar.
Am nächsten Tag hatte sich der Sturm gelegt, und ich machte mich auf zur Hurtigruten-Fähre, die mich nach Vardø, einer Kleinstadt am östlichen Zipfel der norwegischen Finnmark, bringen sollte. Die Überfahrt war kurz, ruhig, fast meditativ, während das Schiff durch die eisigen Gewässer der Barentssee glitt. In Vardø schlug ich mein Zelt auf dem verlassenen Campingplatz am Ufer der Barentssee auf. Der leichte Wind, der über den Campingplatz strich, ließ mich vorsichtshalber das Zelt mit zusätzlichen Schnüren an meinem Fatbike sichern, denn der Boden war so hart gefroren, dass die Heringe keinen Halt fanden. Zwei lebensgroße Holzfiguren, die mit Ferngläsern in Richtung Osten blickten, schienen symbolisch dafür zu stehen, dass Finnland schon seit dem Winterkrieg 1939/40 und vor allem aufgrund der aktuellen Lage den großen Nachbarn Russland mit Argwohn und Sorge beobachtet.
Im Hafen von Vardø.
Kurz nach Mitternacht erwachte ich abrupt. Das Zelt, mein dünner Schutz vor der unbändigen Natur, zitterte bedrohlich. Der leichte Wind des Abends hatte sich in einen tobenden Sturm verwandelt. Die Böen rissen den Rand des Zeltes immer wieder hoch und drohten, es mit mir darin umzuwerfen. Der Schnee, der mittlerweile in scharfen Eisregen übergegangen war, peitschte gegen das Zelt, und als ich die dem Sturm zugewandte Zeltwand schließlich nicht mehr herunterdrücken konnte, wusste ich, dass ich handeln musste. In Panik tastete ich nach meinen Stiefeln und der Stirnlampe und kroch aus dem Zelt. Genau in dem Augenblick ergriff ein besonders heftiger Windstoß das Zelt, erfasste es zusammen mit der darin befindlichen Packtasche mit Laptop, Kamera und anderen Wertsachen und riss es mir aus der Hand. Ich sprang hinterher und warf mich mit meinem ganzen Körpergewicht auf das Zelt, um seinen Flug in die Barentssee zu stoppen. Als einen letzten Kraftakt zog ich das Zelt schließlich in den Windschatten einer kleinen Hütte in der Nähe. Erst dort konnte ich das Ausmaß des Chaos begreifen: Eine Zeltstange war gebrochen, und die Hälfte meiner Ausrüstung war durchnässt. Meine Kleidung klebte mir eiskalt am Körper, und ich spürte die Kälte bis in die Knochen. Aber es half alles nichts. Notdürftig baute ich das Zelt auf, schlüpfte schließlich zurück in meinen leicht feuchten Schlafsack und hoffte, dass die improvisierte Konstruktion die restliche Nacht überstehen würde. Während der Sturm draußen weiterwütete, wusste ich: Auch diese Strapazen werden Teil einer Erinnerung, die ich später nicht würde missen wollen.
Zelten in einer stürmischen Nacht.
Einsame Schönheit der Finnmark bis Berlevåg
Am Morgen hatte sich die Welt in eine spiegelglatte Eislandschaft verwandelt, und ich war heilfroh, dass meine mit Spikes ausgestatteten Reifen mir das Vorankommen ermöglichten. Die letzten Tage meiner Radtour führten mich durch die Finnmark, entlang der Barentssee, einer wild schönen Küstenlinie mit zugefrorenen Stränden und tobenden Wellen. Im idyllischen Kongsfjord, einem malerischen Fischerdorf, übernachtete ich in einem alten Bauernhaus, das liebevoll restauriert nun als die einzige Touristenunterkunft am Ort dient und vom kleinen Fenster des Gästezimmers einen wunderschönen Blick über die Bucht bietet. Am letzten Tag rollte ich schließlich in Berlevåg ein, um von dort die Fähre der Hurtigruten-Linie zurück nach Tromsø zu nehmen.
Im idyllischen Kongsfjord auf der Reise durch die Finnmark.
Mit der Hurtigruten-Fähre nach Tromsø
Die Fahrt mit der Hurtigruten-Fähre war mein Lohn für all die Strapazen, fast schon ein Rentner-Programm. Man sitzt am Fenster, schaut bei einem leckeren Cappuccino hinaus und lässt die sagenhafte Kulisse der norwegischen Küste mit ihren kleinen, bunten Fischerhäuschen und unzähligen Fjorden an sich vorbeiziehen. Keine Anstrengung, keine Kälte, nur Entspannung. Nach einem Stopp in Honningsvåg und Hammerfest erreicht die Fähre nach einer knapp 24-stündigen Fahrt schließlich um kurz vor Mitternacht die Küstenstadt Tromsø. Das ehemalige „Paris des Nordens“ versprüht auch heute noch einen besonderen Charme mit seiner Mischung aus wilder Natur und urbanem Leben, die diese Stadt so einzigartig macht.
In Tromsø organisiere ich mir eine Verpackung für mein Rad, besuche ein Mitternachtskonzert in der Stadtkirche und das Polarmuseum, in dem die Expeditionen des Polarforschers Roald Amundsen lebendig werden. Meine kleine Abenteuerreise wirkt neben den unfassbaren Herausforderungen, denen sich dieser Forscher ausgesetzt hat, wie eine entspannte Sommer-Radtour den Rhein entlang. Trotzdem bin ich ein wenig stolz, es geschafft zu haben.
Zwei Tage später stehe ich am kleinen Flughafen von Tromsø, neben mir mein kunstvoll in Luftpolster- und Gartenfolie verpacktes Fatbike, und warte auf meinen Rückflug nach Düsseldorf. Die letzten drei Wochen werde ich noch verarbeiten müssen, aber eines ist jetzt schon sicher: Dies war nicht meine letzte Radtour in der Arktis. Die Faszination für die karge, kalte Schönheit des Nordens hat mich erwischt – eiskalt!
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Carsten Grüttner ist Rechtsanwalt, Stadtführer für Köln, Radreisen-Abenteurer und Vortrags-Referent. Seit mehr als 25 Jahren bereist er die Welt bevorzugt individuell mit Rad, Zelt und Schlafsack und lebt dabei das Modell „Mobiles Office“. Mit seinen lebendigen Live-Reportagen, u.a. „ABENTEUER – Weltreise per Rad“, „TIBET – Mit dem Rad auf dem Dach der Welt“ und „EISKALT – Mit dem Rad durch die Arktis“ berichtet er von diesen Reisen. Für mehr Infos schaut auf dem Instagram-Kanal „bikeload“ vorbei!