Ur- und Altwälder sind für viele bedrohte Arten überlebenswichtig. Doch ausgerechnet in dem für seine Natur bekannten Schweden verschwinden sie mehr und mehr. Das will die Stiftung Naturarvet ändern, indem sie Wälder kauft und so für immer bewahrt.
Erschienen in NORR – Natur des Nordens
“Mit Wäldern ist es ein bisschen wie mit Keksdosen: Öffnet man den Deckel, sind sie bald leer”, sagt Lo Jarl, Ökologe und Leiter der Stiftung Naturarvet. “Wenn man ein paar Kekse behalten will, schließt man am besten die ganze Dose im Tresor ein.”
Der Vergleich mag vielleicht etwas hinken – wer würde ernsthaft Kekse in einen Safe sperren? Aber die Botschaft ist trotzdem leicht zu verstehen, wenn man sich hier so umschaut. Wir stehen inmitten einer vergessenen Natur- und Kulturlandschaft direkt am Meer. Vor uns eine Wildblumenwiese, die in einen wunderschönen alten Küstenwald mündet: Ein echter “Leckerbissen” für jeden Naturliebhaber – genauso wie für manches Forstunternehmen.
Hier, auf der Insel Gräsö in Roslagens Schärengarten, hat Naturarvet in den Jahren 2020 bis 2022 insgesamt drei benachbarte Waldflächen von insgesamt 88 Hektar erworben: Drei “Keksdosen” voller wertvoller Natur, die für die Zukunft bewahrt werden sollen.
Seit 2004 sammelt die Stiftung Geld von Privatpersonen, Unternehmen und Organisationen, um Wälder mit hohem Naturwert zu kaufen, die dadurch geschützt werden und sich ohne menschlichen Eingriff entwickeln können. Die Satzung verbietet das Fällen und andere forstwirtschaftliche Maßnahmen sowie den Verkauf. Sie ist in Los Gleichnis der juristische Tresor, der garantiert, dass die ökologisch wertvollen Inhalte da bleiben, wo sie sind.
Statt wirtschaftlicher Gewinne soll die biologische Vielfalt blühen und ein Schutzraum für bedrohte Arten entstehen.

Einzigartige ökologische Werte
Es dauerte eine Weile, bis wir hier sind, in den Altwäldern von Svartsundet und Fågelskärsudden: Etwas mehr als zwei Stunden Autofahrt von Stockholm nach Norden in die Küstengemeinde Öregrund, dann mit der Fähre weiter nach Gräsö, schließlich die Schotterstraße vom Dorf Söderboda, vorbei an Feldern und Wäldern zu der GPS-Position, an der wir Lo treffen. Der Punkt auf der Karte liegt direkt am Getfjärden, einer eingeschlossenen Meeresbucht, die nur über einen schmalen Naturkanal, Svartsundet genannt, mit dem offenen Meer verbunden ist.
“Es ist gar nicht so einfach, Wälder mit einem so hohen Naturwert zu finden«, erzählt Lo zu Beginn. Zum einen gebe es nur noch sehr wenige Gebiete in Schweden, die Naturarvets Kriterien erfüllen, sprich eine entsprechend große biologische Vielfalt und ein hohes Bestandsalter aufweisen. Zum anderen müssen solche Grundstücke überhaupt erst einmal auf dem Markt sein – was so gut wie nie passiert.
“Doch diese Waldflächen tauchten 2020 plötzlich auf und wir sind sehr froh, dass wir sie entdeckt haben und erwerben konnten”, erzählt Lo. “Nach dem Kauf des ersten Grundstücks wurde es dann einfacher. Wir konnten einen guten Kontakt mit den Nachbarn auf der Insel aufbauen und erklären, warum wir Interesse an dem Wald haben und auf welche Art wir ihn schützen werden. Das dadurch gewonnene Vertrauen führte dazu, dass wir schließlich noch zwei weitere benachbarte Flächen kaufen konnten.”
Man kann gut verstehen, wie überzeugend Lo sein kann. Er ist Ökologe und seit jeher ein engagierter Naturliebhaber. Zusammen mit seiner Frau Ywonne hat er große Teile seines Lebens damit verbracht, sich für Natur und Umwelt zu engagieren. Er war Feldbiologe, Kleinbauer und aktives Mitglied in verschiedenen gemeinnützigen Organisationen. Heute verbringen er und Ywonne viel Zeit in den Wäldern der Stiftung, inventarisieren Arten, sammeln Pilze, schlafen im Zelt, treffen sich mit Behörden, Nachbarn und interessierten Journalisten wie mir.
Lo kann gut erklären, es ist spannend, ihm durch den Wald zu folgen und plötzlich Details zu sehen, die man sonst kaum wahrnehmen würde – kleine Insektenlöcher, Minipilze, seltene Moose und verschiedene Arten von Vogelgezwitscher. Mit dem richtigen Wissen wird die Welt ein bisschen größer.


Ein Leben mit der Natur
Wir stapfen durch das hohe Gras, vorbei an einer verlassenen Scheune, hinein in einen Wald, der nie zuvor kahl geschlagen oder mit modernen Methoden bewirtschaftet wurde. “Wahrscheinlich wurde hier irgendwann mal Vieh geweidet. Aber der Wald ist seit mindestens siebzig Jahren völlig unberührt«, sagt Lo.
Umgefallene Stämme liegen wild herum, überwachsen von Moos und Pilzen und umgeben von Beerenreisig. Fichten und Kiefern mischen sich mit Espen und anderen Laubbäumen. Trockene, höher gelegene Teile, bedeckt mit weißen Flechten, gehen in feuchtes, tiefes und dicht bewachsenes Gehölz über. In der Nähe des Wassers passieren wir einen Küstenwald, in dem vor allem Erle, aber auch Esche und andere Laubbäume wachsen, die im sumpfigen Boden gedeihen.
“Die nordischen Mangroven”, sagt Lo. “Vor hundert Jahren war das hier noch der Meeresgrund, aber durch die Landhebung entstand ein völlig neues Waldgebiet, das bei der Bin-dung von Kohlendioxid hilft.”
Schwedens Natur- und Urwälder sind seit jeher Biotope für seltene Arten und Kohlenstoffsenken mit wichtigem Klimaeffekt. Aber es sind nicht mehr viele von ihnen übrig. In Südschweden sind gerade einmal drei Prozent des Bestandes überhaupt formell geschützt. Darüber hinaus haben nur rund drei Prozent der ungeschützten Wälder einen so hohen Wert, dass man sie wirklich als Natur- oder Urwald bezeichnen kann.


Patenschaften und Zusammenarbeit
Auch international gibt es seit längerer Zeit eine Bewegung zum Kauf und Schutz von Wäldern. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Tompkins Conservation von Kris Tompkins, einst CEO von Patagonia, und ihrem Mann Douglas, Mitbegründer der Marken The North Face und Esprit. Anfang der 90er Jahre begannen die beiden, Geld zu sammeln, um große Wildnisgebiete in Patagonien zu kaufen. In den folgenden Jahrzehnten trug die Tompkins Conservation zur Schaffung oder Erweiterung von 17 Nationalparks in Chile und Argentinien (zwei davon sind Meeresparks) bei.
Trotz des guten Zweckes wird der Erwerb von Naturgebieten durch ideelle Organisationen und vermögende Privatpersonen bisweilen auch kritisch gesehen. Insbesondere dann, wenn die Lokalbevölkerung, die zuvor in der Natur lebte, plötzlich keinen Zugang mehr zu ihr hatte und in ihrer Existenz bedroht wird. Wie kann man sicherstellen, dass reiche Akteure aus dem Ausland nicht die Naturressourcen ärmlicher Regionen beschlagnahmen und fortan die Regeln für diese Gebiete selbst bestimmen? Transparenz und die Einbindung der Lokalbevölkerung sind deshalb gleichermaßen wichtig für einen nachhaltigen Umgang mit biologisch wertvollen Wildnisgebieten. Hier gilt das Engagement der Tompkins Conservation als vorbildlich.
Auch für Naturarvet ist die Zusammenarbeit mit Nachbarn, Organisationen und Behörden ein wichtiger Teil der Arbeit. Manche Wälder der Stiftung werden zum Beispiel zu offiziellen Naturschutzgebieten. Gleichzeitig ist es wichtig, Spender detailliert über die Pläne der Stiftung auf dem Laufenden zu halten.
Durch die Schirmherrschaft über Waldteile oder Bäume mit einem besonderem Naturwert hat Naturarvet eine einfache Möglichkeit gefunden, Spender mit einzubeziehen. “Auf diese Weise kommt der Beitrag des Geldgebers dem Wald zugute und es wird sowohl konkret als auch verständlich. Die Spender können dann selbst vorbeikommen und den Teil des Waldes besuchen, zu dessen Schutz sie beigetragen haben”, erklärt Lo.


Einsatz für den Wald
Wir sind an der Meerenge angelangt. Hier steht einer von Svartsundets Vorzeigebäumen: eine majestätische, mindestens zweihundert Jahre alte Kiefer. Hier stößt man unter anderem auf den Kiefernfeuerschwamm und den Bockkäfer, zwei vom Aussterben bedrohte Arten, die diese alten Kiefern zum Überleben benötigen. Ihre Krone ist zudem ein guter Aussichtspunkt für Seeadler und andere Raubvögel.
Auf der Karte des Svartsundet-Waldes finden sich mehrere Namen großer schwedischer Outdoor-Marken. Im nördlichen Teil hat das Globetrotter-Schwesterunternehmen Naturkompaniet dazu beigetragen, rund sieben Hektar Wald zu erhalten. Auf der anderen Seite der Meerenge sicherte der Schuhhersteller Icebug eine Fläche von drei Hektar, finanziert aus Spenden einer Anti-Black-Friday-Aktion, bei der alle Einnahmen des Tages statt in die Firmenkasse in den Naturwald flossen.
“Outdoor-Unternehmen wie Naturkompaniet oder Icebug sind fest in der schwedischen Natur verwurzelt und möchten etwas tun, um diese zu bewahren. Gleichzeitig haben sie bewusste Kunden, die ebenfalls zum Erhalt der Wälder beitragen möchten”, sagt Lo, als wir uns auf einem Felsen an der Meerenge niederlassen und unser mitgebrachtes Lunchpaket essen. Das Schilf wiegt sich langsam im Wind und wir hören die charakteristischen Schreie des Seeadlers.
“Der Wald soll natürlich auch ein Ort für Menschen und Outdoor-Aktivitäten bleiben. Hier kann sich jeder frei bewegen und die Natur bewusst erleben”, fährt Lo fort. “Ganz besonders schön ist es, Svartsundet auf dem Wasserweg mit dem Kajak oder Kanu zu entdecken und vom Meer aus in den Gefjärden paddeln.” Man plane auch, die alte Scheune zu renovieren und eine einfache Übernachtungsmöglichkeit für Besucher zu schaffen. So könne die Zeit im Naturreservat noch ausgiebiger für Erkundungstouren genutzt werden.


Kleiner Wasserfrosch als Sahnehäubchen
Unsere Wanderung endet auf einer weiteren Wiese weiter hinten im Wald. Hier möchte Lo uns ein Projekt zeigen, das im vergangenen Jahr durchgeführt wurde, um einen Lebensraum für den vom Aussterben bedrohten Kleinen Wasserfrosch zu schaffen. Mit Unterstützung der Kommune wurde hier im feuchten Wiesenland ein Teich ausgegraben.
“Das Wasser erwärmt sich im Frühjahr schnell und wird dann zu einem perfekten Lebens- und Zuchfluchtsraum. Aber um überwintern zu können, braucht der Kleine Wasserfrosch einen Urwald mit Wurzeln und Mulden im Boden, in denen er Schutz und in den kalten Monaten Wärme findet. Und dank all der Spenden konnten wir dieses Gebiet kaufen«, sagt Lo und zeigt auf das Land neben dem Teich.
Bisher haben sich zwar noch keine Kleinen Wasserfrösche etabliert. Aber der Urwald mit seinen Stämmen, Blättern, Wurzeln, Wiesen, Mulden und Wasserstellen hat Zeit. Sehr viel Zeit. Lo hofft, dass Frösche von benachbarten Grundstücken schrittweise ihren Weg in diesen Teich finden werden. „Das wäre noch einmal eine besondere Bereicherung für unseren Wald.”
Fotos: Karin Alfredsson