Der Larapinta-Trail ist ein 221 Kilometer langer Fernwanderweg in der heißen Mitte Australiens. Obwohl es ihn bereits seit zwei Jahrzehnten gibt, rückt er aktuell immer mehr in den Fokus der weltweiten Wandercommunity. Wer es einsam mag, sollte sich daher sputen.
»Allein« ist ein relativer Begriff. Ja, andere Wanderer haben wir heute noch keine gesehen. Allein sind wir trotzdem nicht. Denn da sind Fliegen. Viele Fliegen. Auf der Suche nach Feuchtigkeit kriechen sie in unsere Nasen, Ohren und Augen. Sie stechen zwar nicht. Aber eine Plage sind sie trotzdem. Wir verschlucken sie, wir inhalieren sie. Je höher die Sonne steht, desto nerviger werden die Quälgeister. Kurz vor einem Nervenzusammenbruch – ruhig, Brauner! – greifen wir zum letzten Mittel. Wir tun das, was wir nie tun wollten: Fliegennetz. Ist ja nur etwas für Weicheier. Und ja: So ein Netz über dem Kopf sieht schon arg nach Voll-Honk aus. Aber es errichtet eine Berliner Mauer zwischen uns und den Invasoren. Wir lernen: Man kann sogar an den Trinkflasche nuckeln, ohne das Netz abnehmen zu müssen. Willkommen im roten Zentrum Australiens!
Was hatten wir uns vor der Abreise einen Kopf gemacht: die Hitze, die Giftschlangen. Und jetzt sind es gewöhnliche Fliegen, die uns zur Teil-Kapitulation zwingen. Aber egal: Nehmen wir das Outback eben durch ein Gitternetz wahr. Und das, was wir da entdecken, kann sich wahrlich sehen lassen. Bereits beim Anflug auf Alice Springs stach uns die MacDonnell Range ins Auge. Stundenlang waren wir über eine monotone, nahezu brettebene Halbwüste geschwebt. Doch dann tauchte da plötzlich eine Bastion aus rostrotem Fels auf, das am höchsten aufragende Wüstengebirge Australiens. Durch dessen westliche Kette, eben die West MacDonnells, zieht sich der 223 Kilometer lange Larapinta Trail. Wer ihn komplett begehen will, von der Old Telegraph Station nahe Alice Springs bis zum 1.380 Meter hohen Mount Sonder, muss dafür mindestens zwölf Tage einplanen. So viel Zeit haben wir leider nicht, also ist Rosinen picken angesagt: Wir werden nur die anspruchsvollsten und abwechslungsreichsten Etappen gehen, gewürzt mit viel Kultur und Geschichte der Aborigines, Bade-Stopps in den kühlenden Pools tiefer Schluchten und romantischen Lagerplätzen unter einem Nachthimmel ohne jede Lichtverschmutzung.
Gleich der Auftakt lässt uns staunen: Die Etappe 4 beginnt bei Standley Chasm, einer dunklen Felsspalte, die so eng ist, dass die Strahlen der Sonne erst um Mittag zum Boden vordringen. »Noch später bringt das Licht die ockerfarbenen Wände regelrecht zum Leuchten«, schwärmt Lou, unsere Wanderführerin. »Für das Volk der Arrernte ist das seit vielen Jahrtausenden ein heiliger Ort, und zwar einer, der den Frauen vorbehalten ist.« Schnell suche ich das Weite, ehe die Götter grantig werden. Wir müssen ohnehin los, denn auf uns warten fast 20 Kilometer auf einer Etappe, die als anspruchsvoll gilt. Wenige Stunden später wissen wir: Alpen-erfahrene Wanderer haben hier nichts zu befürchten. Richtig abstürzen kann man an nur wenigen Stellen – es sei denn, man schlägt wegen der Fliegen wild um sich.
Umso mehr Zeit haben wir, die Landschaft zu bewundern. Auf den ersten Blick erscheint sie abweisend. Man spürt, welche gewaltigen geologischen Kräfte hier gewirkt haben müssen, als vor 300 bis 350 Millionen Jahren eines der ältesten Gebirge der Welt entstand, viel betagter als die Alpen. Jetzt nagt der Zahn der Zeit an den Felsen. Wind, heftige Regengüsse im Winter und die unbarmherzige Sonne im Sommer lassen das Gestein erodieren. Trotzdem ist das die Heimat vieler Pflanzen- und Tierarten. Die Wüste lebt nicht nur, sie ist bunt wie Bonbon-Papier. Rot leuchtende Grevilleen, gelbe Kassien und pink-farbene Mulla Mulla blühen um die Wette. Schatten finden wir unter »Ghost Gums«, einer tief wurzelnden Eukalypten-Art mit blendend weißer Rinde. »Sie spielen in den Traumzeit-Sagen der Ureinwohner eine wichtige Rolle«, erklärt Lou. »Der nicht weit von hier geborene Arrernte Albert Namatjira hat sie häufig gemalt und so in ganz Australien bekannt gemacht.« Ja, von Namatjira, dessen Bilder sogar Queen Elizabeth begeisterten, hatten wir viel gehört. Er war der erste Ureinwohner des Northern Territory, der die vollen australischen Bürgerrechte erhalten hatte – in einer Zeit, in der Down Under noch weit von Aussöhnung mit den Aborigines entfernt war.
Während wir zu unserem Nachtquartier am Birthday Waterhole – nein, im Roten Zentrum Australien gibt es keine Krokodile – absteigen, fliegen ganze Schwärme von Wellensittichen in atemraubender Geschwindigkeit über unsere Köpfe. Für Australier, die die Vögel »Budgies« nennen, sind sie so gewöhnlich wie Spatzen für uns. An den Wasserlöchern begegnen uns außerdem Inka- und Rosa-Kakadus, Ringsittiche und Zebrafinken. So also geht Trekking in einer Zoohandlung! Keine zwei Stunden später haben wir unsere »Swags« am Fuß roter Felsen ausgerollt. Ein Swag ist so eine Art Biwaksack mit integrierter Liegematte und Bettzeug: zu schwer zum Selbertragen, aber perfekt, wenn ein Land Cruiser das große Gepäck transportiert. Ein bisschen Komfort darf ruhig sein. Wir wollen Land und Leute kennenlernen, keine Ausdauer-Rekorde aufstellen. Am Camp-Feuer kommen wir mit einer Solo-Trekkerin ins Gespräch, die den Trail ganz ohne fremde Hilfe geht, so wie Reese Witherspoon in »Wild«. Ja, der Film habe sie inspiriert, sagt sie. Die ersten Tage seien hart gewesen. Jetzt habe sie ihren Rhythmus gefunden. Sie wolle es allein schaffen, dabei aber nicht päpstlicher als der Papst sein, soll heißen: Gegen ein kühles Bier aus unserer Kühlbox hat sie nichts einzuwenden. Cheers, mate! Danach gucken wir gemeinsam auf die Milchstraße. Suchen das Sternbild »Emu in the Sky«, das in den Dreamtime-Legenden der Aborigines eine wichtige Rolle spielt. Zum Einschlafen lese ich einige Seiten in Bruce Chatwins »Traumpfade«. Als mir die Augen zufallen, ist es noch nicht einmal 21 Uhr. Gute Nacht, John-Boy!
»Auf eigene Faust oder mit einem Veranstalter? Für letzteres spricht das leichtere Gepäck, da am Ende der Etappen oft glamoröse Glamping-Camps warten.«
Der nächste Tag gilt als der härteste des Trails. Von Boulder zu Boulder hüpfend, steigen wir durch eine Schlucht zur Razorback Ridge auf, die aber gar nicht so »rasiermesserscharf« ist. Beim ersten Picknick im kühlen Schatten roter Eukalyptusbäume packen wir die Fliegennetze aus: Guten Morgen allerseits! Ob sich die frühen Entdecker je an diese Insektenschwärme gewöhnt haben? 1860 war eine von John McDouall Stuart angeführte Expedition in das Gebirge vorgedrungen, dessen dramatische Schluchten und glockenklare Wasserlöcher die rote Wüste jäh unterbrachen. Er benannte diese Kette nach dem damaligen Gouverneur Südaustraliens, Sir Richard MacDonnell. Auf die Idee, hier einen Weitwanderweg anzulegen, kamen die Aussies erstmals 1989, als die Berge zum Nationalpark erklärt wurden. Die damalige Route war jedoch nur halb so lang wie heute und verband alte Handelspfade miteinander. Dann mussten Sträflinge als Trail-Bauer ran, und 2002 wurde der Trek in seiner heutigen Form eingeweiht. Für uns führt dieser jetzt durch die Spencer Gorge. Das Wasser steht hier noch so hoch, dass wir die Rucksäcke über dem Kopf balancieren müssen, um sie trocken zu halten. Bei Temperaturen um 30 Grad im Schatten, den es selten gibt, ist das eine willkommene Abkühlung.
Apropos Wasser: Der Trail kreuzt mehrmals den Finke River, den wahrscheinlich ältesten Wasserlauf der Erde. In der Sprache der Arrernte heißt er: Lhe-re-pirnte, salziger Fluss, was die Lutherischen Missionare im nahen Hermannsburg in Larapinta übersetzten. Für uns Europäer ist dieser Kontrast zwischen harscher Wüste und Oasen-ähnlichen Pools, die die Aussies Billabongs nennen, besonders faszinierend. Am nächsten Tag, auf dem Rundweg zur Ormiston Gorge, bekommen wir davon abermals eine Kostprobe serviert. Nach der schweißtreibenden Wanderung ist das Chillen am fast weißen Strand und das Baden im klaren Flusswasser Genuss pur. Allerdings ist das nicht überall erlaubt. Einige Pools wie der in der Serpentine Gorge sind heilige Orte der Arrernte.
Aufstehen um drei Uhr morgens! Nein, wir haben uns nicht plötzlich in die Westalpen gebeamt, aber wir wollen kurz vor Sonnenaufgang am Gipfel des Mount Sonder sein, benannt nach dem deutschen Botaniker Otto Wilhelm Sonder. Für die meisten Australier, deren höchster Gipfel des ganzen Kontinents gerade einmal ein Zweitausender ist, ist bereits das Gehen im Schein der Stirnlampe ein Abenteuer für sich. Lou erzählt von Gästen, die in der Nacht vor dem Aufbruch so aufgeregt waren, dass sie keine Sekunde schlafen konnten. Inzwischen kennt sie uns so gut, dass sie weiß: Wir schaffen das locker ohne die fünf Liter Wasser, auf die sie anfangs bestanden hatte.
Als wir oben ankommen, dämmert es gerade. Magisch ist diese Zeit vor dem eigentlichen Sonnenaufgang, wenn sich die Konturen der Landschaft allmählich herausschälen aus dem Dunkel der Nacht. Der Blick zum Horizont, in alle vier Himmelsrichtungen, ist faszinierend. Da ist nur das Outback und seine menschenfeindliche Halbwüste, ein Land der Extreme, in dem allein die Aborigines wussten, wie man überlebt. Niemand spricht. Auch Lou, die schon so oft hier oben war, genießt diesen Augenblick der Stille, das Warten auf den rot leuchtenden Ball, der sich gleich in den Vordergrund schieben wird. Niemals hätten wir gedacht, dass uns ein gerade einmal 1.380 Meter niedriger Hügel die Tränen in die Augen treiben würde.
Mit 1,3 Millionen Quadratkilometern ist das Northern Territory (NT) fast so groß wie Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen. Gerade einmal die Einwohnerzahl von Karlsruhe (290.000) verteilt sich auf diese riesige Fläche. Knapp die Hälfte der Bewohner lebt in der Hauptstadt Darwin, der große Rest des NT ist nahezu menschenleer.
Mehr Informationen findet ihr hier.
Anreise: Am bequemsten mit Singapore Airlines ab deutschen Flughäfen via Singapur nach Darwin und weiter nach Alice Springs.
Larapinta-Trail: Aktuell gehen jedes Jahr rund 5.000 Trekker den Trail. Es gibt Überlegungen, ein Permit-System einzuführen und die Zahl der Starter pro Tag zu beschränken. Saison ist von April bis September. Nachts kann es in der Wüste dann zwar empfindlich kalt werden, aber tagsüber sind die Temperaturen mit Höchstwerten zwischen 24 und 32 Grad erträglich. Davor und danach steigen die Werte auf bis zu 40 Grad an und der Trail ist offiziell gesperrt.
Veranstalter: Die Gründer von World Expeditions waren in die Erschließung des Trails eingebunden und arbeiten eng mit den Western Arrernte zusammen. Es gibt auf dem Trek eigene Glamping-Camps, die exklusiv den Gästen zur Verfügung stehen, desweiteren zahlreiche Wanderungen in anderen Regionen des NT und in ganz Australien, die sich mit dem Larapinta Trail kombinieren lassen.
Zum Veranstalter World Expeditions
TEXT & FOTOS: Günter Kast & World Expeditions