Berge und Freiheit: Soheila Mirzaei

Für die Berge und ihre Freiheit musste Soheila Mirzaei ihre Heimat aufgeben. In Stuttgart hat sie ihren Frieden und ein neues Zuhause gefunden.

Manuel Arnu

Wenn Soheila Mirzaei ihre Augen schließt und in Gedanken zurück in ihre Heimat Iran reist, blickt sie auf die Berge im Norden Teherans: schroffe Felsmassive mit schneebedeckten Gipfeln, die sich unmittelbar hinter der Skyline der 15-Millionen-Metropole türmen. Berge, die ihr Leben verändert und geprägt haben und die Soheila seit fast 20 Jahren nicht mehr gesehen hat. Als junge Frau pilgerte sie, so oft sie konnte, zu den Felswänden des 3964m hohen Totschal, des Hausbergs Teherans. Hoch oben, fernab von Smog und Lärm der Mega-City und unbeobachtet von der islamischen Sittenpolizei, war Soheila frei. »In den Bergen konnte ich meine Freiheit ausleben«, sagt Soheila. Sie konnte ohne Kopftuch klettern, nur im T-Shirt, die Sonne auf den Armen spüren, zusammen mit Freunden unbeschwerte Stunden genießen. Auf dem Rückweg begannen die Schwierigkeiten. Häufig wartete in Teheran bereits die Polizei auf Soheila.

Soheila Mirzaei, 52 Jahre alt und Verkaufsberaterin in der Stuttgarter Bergsportabteilung, war in Iran eine erfolgreiche und landesweit bekannte Spitzensportlerin. Sie war die erste iranische Frau, die Kletterrouten im 8. Schwierigkeitsgrad meistern konnte. 1988 bestieg sie erstmals den Alamkooh, den zweithöchsten Berg des Iran, in einer gemischten Seilschaft. 1997 vertrat sie ihr Land als Mitglied der Nationalmannschaft bei den Asienmeisterschaften im Sportklettern. Soheila verdankt ihrem Sport viele unvergessliche Momente. Aber weil sie Klettern liebte, musste sie aus ihrer Heimat flüchten, sie verstieß mit ihrer zwanglosen Art gegen fundamenta- le Verhaltensregeln in Iran.

Archiv Mirzaei Gegen alle Widerstände: Klettern in Iran 1980.

750 HÖHENMETER FREE SOLO

Soheila wurde 1964 zu Zeiten des Schah-Regimes in Urmia, der Hauptstadt der Provinz West-Aserbaidschan, geboren. Iran war noch ein anderes Land, als wir es heute kennen. Kopftücher waren die Ausnahme und Soheilas Heimatstadt galt als das Paris Persiens. »Alles war modern. Wir fühlten uns frei«, erinnert sich Soheila an ihre Jugend. Während der Schulzeit wuchs auch ihre Liebe zu den Bergen. Bergsport war bei Männern und Frauen beliebt. Mit der islamischen Revolution im Jahr 1979 änderte sich das Leben von Grund auf, vor allem für Frauen. »Frauen mussten sich mit einem Kopftuch verhüllen, sie wurden aus Sportvereinen ausgeschlossen und in der Öffentlichkeit nur in familiärer Begleitung geduldet.« Als Teenager zog Soheila mit ihrer Familie nach Teheran. Das Klettern ließ sie sich nicht verbieten, doch die Vorschriften der iranischen Religionspolizei konnte sie nicht akzeptieren.

Archiv Mirzaei Nicht glücklich: Soheila einst in Iran.

Unabhängigkeit fand Soheila in den Bergen, den Gesetzeshütern war der Weg dorthin meist zu mühsam. »Viele Iraner gingen nach der Arbeit oder am Wochenende in die Berge.« Hier konnten Frauen ihr Kopftuch lockern, frisch verliebten Pärchen war es möglich, sich unbemerkt zu treffen. Soheila konnte gemeinsam mit Männern ihren Sport ausüben, ganz offen über ihr Land reden. »Mein Verein war einer der wenigen, der sich weigerte, Frauen aus dem Vereinsleben zu verbannen.« Zwölf Jahre lang arbeitete Soheila als Klettertrainerin in ihrem Verein, bildete zu Beginn nur Frauen aus. Es gab kein offizielles Gesetz, das Frauen verbot zu klettern. »Aber jeder Polizist konnte selbst über Sanktionen entscheiden und hatte die Macht dazu.« Soheila ließ sich nicht entmutigen, ihre Leidenschaft war größer. Sie kletterte weiter und wurde immer besser. 1990 durchstieg Soheila die 750 Meter hohe Nordwand des Alam-kooh in heute noch bestehender Rekordzeit. Free Solo, in 90 Minuten. Durchschnittlich benötigen Bergsteiger für diese Wand fünf bis sechs Stunden.

Nach dem Abitur studierte sie Klinische Psychologie und arbeitete als Leiterin der Personalabteilung in einem Technologieunternehmen mit 500 Mitarbeitern. Soheila war erfolgreich im Beruf, verdiente gut und hätte zufrieden sein können – wenn sie sich untergeordnet hätte. Doch das Klettern brachte sie zunehmend in Bedrängnis. Die Polizei überwachte Soheila, wenn sie aus den Bergen zurückkehrte. Immer häufiger wurden sie und ihre Kletterpartner von der Polizei festgenommen. Die Gesetzeshüter konnten ihre Liebe zu den Bergen und die sportlichen Ambitionen nicht verstehen, sie witterten eine Verschwörung. »Sie fragten nach unseren Waffen. Aber wir waren Kletterer!«, empört sie sich heute noch. Soheila wollte ihre Heimat, ihre Berge nicht verlieren. »Aber am Ende wurden meine Familie und ich stark unter Druck gesetzt.«

Die Polizisten witterten eine Verschwörung und fragten nach unseren Waffen. Aber wir waren nur Kletterer!

Archiv Mirzaei Glücklich: Soheila heute am Fels.

1999 verließ Soheila den Iran und fand Schutz bei Verwandten in Deutschland. Zunächst hielt sie sich mit Aushilfsjobs über Wasser, dann fand sie eine Arbeit als Kletter-Trainerin in einer Kölner Kletterhalle. 2006 kam sie zufällig an der Kölner Globetrotter-Filiale vorbei: »So einen schönen Laden hatte ich noch nie gesehen und habe mich gleich beworben«, lacht Soheila. Sie bekam eine Stelle in der Bergsportabteilung. Als Anfang September 2014 in Stuttgart eine neue Filiale eröffnet wurde, wechselte Soheila kurzentschlossen in den wilden Süden. »In Stuttgart fühle ich mich wie neugeboren. Ich habe tolle Kollegen und bin glücklich mit meiner Arbeit. Das erste Mal in Deutschland habe ich Heimatgefühle«, schwärmt Soheila.
Mit ihren 52 Jahren ist Soheila sportlich sehr aktiv und klettert regelmäßig, versucht ihre Leistung permanent zu steigern. »Etwa dreimal pro Woche bin ich nach der Arbeit bis Mitternacht in der Kletterhalle.« An Wochen-enden fährt sie gerne an den echten Fels, zu den Klettergärten in Neckar- und Remstal.

GEDICHTE GEGEN DAS HEIMWEH

Ihre Erinnerungen an den Iran verarbeitet Soheila mit Lyrik. Ihr erster Gedichtband wurde in Iran veröffentlicht, kurz nachdem sie das Land verlassen hatte. Der Titel lautete: »Ich bin ein zurückgelassenes S». Soheila schrieb in Deutschland noch zwei weitere Bände in persischer Sprache, dieses Jahr wird ihr Erstlingswerk in deutscher Übersetzung erscheinen. Im Frühjahr war sie auf einer Lesereise quer durch Europa mit Lesungen u.a. in Paris, Frankfurt und London. »Ich schreibe über meine Gefühle, die Freiheit, das Leben. Aber die Atmosphäre ist eher grau«, erklärt Soheila. Die Gedichte sind Soheilas Schattenseite. Zum Glück gibt es noch die sonnigen Berge. Früher, in Teheran, war sie ständig umgeben von ihnen. Das vermisst Soheila heute.
Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer. Seit Hassan Rohani 2013 Regierungschef geworden ist, herrscht Aufbruchstimmung in ihrer Heimat. Der Bergsteigerverband möchte Soheila einladen und für ihre sportlichen Leistungen ehren, für ihren Einsatz für Frauenrechte und die Förderung des Bergsports. »Wenn ich zurückkehre, dann möchte ich meine Freunde mitnehmen. Wir könnten eine tolle Zeit in einem fantastischen Land haben.« Dafür muss sie nur ihre Augen schließen.