Der Bodensee-Königssee-Radweg quert einmal die Bayerischen Voralpen. Eine gute Streckenführung und tolles Panorama, gewürzt mit ein paar knackigen Höhenmetern, machen die Radtour zur sportlichen Alltagsflucht.
Die Rampe kommt unverhofft. Eben noch rollte ich wunderbar flott durch die Wälder kurz vorm Tegernsee, jetzt ist meine Geschwindigkeit fast bei null. Ich schalte zu spät. Die Kette rasselt hinten auf dem Ritzelpaket langsam in den leichtesten Gang. Während ich damit beschäftigt bin, überhaupt auf dem Rad sitzen zu bleiben, fährt meine Freundin gemütlich davon. Am Ende der Steigung wartet sie gnädig. Das wird mir in diesen Tagen noch öfter passieren.

Wir sind unterwegs zum Königssee. Vier Tage mit Rad, Zelt und Schlafsack. Das war eigentlich auch schon alles, was wir vorher geplant haben, als wir uns an einem langen Frühsommerwochenende auf den Weg machen. Wir wollen uns nicht allzu weit von der Zivilisation entfernen, aber eben doch irgendwie weg sein. Bei der Strecke halten wir uns deshalb an den Fernradweg »Bodensee – Königssee«. Damit fällt die Routenfindung schon mal weg. Der Weg ist gut ausgeschildert, er verläuft abseits von Hauptverkehrsstraßen und häufig auf reinen Radwegen zwischen Kuhwiesen und Kornfeldern. Wenn wir uns doch mal kurz verfransen, hilft ein schneller Blick auf den GPS-Track im Smartphone. Der meditative Wechsel von Radfahren, Essen, Schlafen, dazu eine tolle Landschaft ist genau das, was wir suchen.
Ein schmaler Anhänger ist die Lösung für fehlende Gepäckträger
Weil uns für die komplette Strecke mit Start in Lindau am Bodensee die Zeit fehlt, beginnen wir in Bad Tölz. Das liegt knapp auf der Hälfte der Originalroute. Bis zum Königssee bleiben für uns so noch etwa 200 Kilometer übrig. Auf diesem Teil der Strecke sind auch weniger Höhenmeter zu erstrampeln. Wie viele genau? Keine Ahnung, wir wollen ja nicht planen.
Ein einziges Problem haben wir vor unserer Abreise zu regeln: Wir besitzen keine Fahrräder mit Gepäckträger. Die Lösung ist ein schmaler Anhänger mit Packtasche für die Campingausrüstung. Dazu zwei kleine Daypacks. Das reicht für unsere paar Sachen locker. Proviant kaufen wir unterwegs frisch. Nur eine Notration aus zwei gefriergetrockneten Mahlzeiten liegt ganz unten in der Packtasche, falls mal kein Supermarkt in der Nähe sein sollte.

Der Anhänger ist der Grund, weshalb ich am Berg jetzt gerne mal eine spontane Formschwäche erleide. Während meine Freundin mit ihrem kleinen Rucksack munter hinaufstrampelt, bekomme ich dank dem kleinen Monster an meinem Hinterrad die volle Härte der Physik zu spüren.
Unsere erste Etappe der Radtour führt vom Bahnhof in Bad Tölz über Gmund am Tegernsee und weiter bis an den Schliersee. Auf dem Campingplatz bekommen wir mit unserem kleinen Zelt einen Stellplatz direkt im Schilf am Ufer. Am nächsten Morgen brechen wir auf, bevor wir Spaziergängern auf dem Seerundweg ausweichen müssten. Bisher waren wir direkt zwischen den Bergen unterwegs, jetzt geht’s hinaus ins Vorland. Hinter Fischbachau öffnet sich der Blick, und wir rollen über eine Geländekante, die uns mit viel Schwung in Richtung Inn schickt. Während wir Höhenmeter vernichten, erkenne ich gegenüber einen kleinen Höhenzug mit Autobahn darauf. Der Irschenberg wirkt aus dieser Perspektive irgendwie lächerlich flach.
Flauer Magen und Puddingbeine – uns hat ein Hungerast erwischt
Nicht nur vom Irschenberg – Schrecken aller Wohnwagengespanne auf dem Weg zum Gardasee – bekomme ich einen neuen Eindruck. Seit mehr als fünf Jahren wohne ich in München, aber die Bayerischen Voralpen lasse ich häufig links liegen. Die höheren Berge am Alpenhauptkamm haben meist bessere Argumente: mehr Schnee oder mehr Abenteuer. Dank der Radtour erkunden wir jetzt eine Region die ich bislang zu Unrecht gemieden habe. Denn die Landschaft ist wunderschön, und trotz des ziemlich guten Wetters treffen wir kaum auf andere Radfahrer.

Während ich so durch die Gegend träume, erwartet uns im Chiemgau der »Mann mit dem Hammer«: Ein astreiner Hungerast mit flauem Gefühl im Magen und mit Pudding in den Beinen hat uns erwischt. Bis nach Aschau kleben die Reifen förmlich am Asphalt. Während meine Freundin über Räder und Gepäck wacht, wanke ich in den Supermarkt. Die Situation eskaliert etwas: eine Packung Eis, zwei Packungen Nudeln, Bananen, Kuchen, Chips und ein Träger Radler. Im Einkaufen mit knurrendem Magen war ich noch nie gut, aber heute ist es ja für einen guten Zweck. Wir müssen schließlich noch bis zum nächsten Campingplatz. Sonst aber haben wir unseren Rhythmus auf der Radtour gefunden. Morgens fahren wir gemütlich los, suchen gegen Mittag einen Supermarkt, essen und schauen per Smartphone, wo der nächste Zeltplatz auf der Strecke liegt. Keine Planung ist gar kein schlechter Plan.
Ab Traunstein orientiert sich unsere Fahrtrichtung wieder den Bergen zu, wir blicken auf ein Stück Klischeebayern mit Zwiebeltürmchen vor prachtvollem Alpenpanorama. In Piding, direkt am Ufer der Saalach, liegt unser nächster Campingplatz. Als kurz nach uns zwei Familien ebenfalls mit Rädern auf den Platz rollen, bin ich beeindruckt. Die vier Erwachsenen haben sechs Kinder dabei, wovon gerade mal eines selbst radelt. Der Rest ist auf Kindersitze und Anhänger verteilt. Dazu die komplette Campingausrüstung für zehn Personen plus Spielzeug. Wie kommen die so beladen bloß die Steigungen hoch?
Am Horizont kündigt der Watzmann den Endspurt an
Meine Oberschenkel jedenfalls freuen sich am nächsten Tag, dass es von hier aus nicht mehr weit ist. Am Nachmittag werden wir bereits in die Fluten des Königssees springen. Doch vorher geht es zur Abwechslung erst noch mal richtig hoch. Am Hallthurmer Berg, kurz hinter Bayerisch Gmain, schlängelt sich die Bundesstraße in mehreren Kehren, während der Radweg links davon einfach gerade den Hang hinaufführt. Ein letztes Mal auf der Radtour das alte Spiel. Meine Freundin fährt gemütlich weiter, während ich inzwischen routiniert die Situation erkenne und direkt in den leichtesten Gang schalte. Auf der sprichtwörtlich letzten Rille spule ich mein Gespann nach oben. Als ich den Anhänger über die letzte Kuppe trete, dreht meine Freundin bereits leicht gelangweilt kleine Warteschleifen auf dem Asphalt.

Wenig später lichten sich die Bäume, und da steht er am Horizont: König Watzmann. Der höchste Gipfel des Berchtesgadener Landes ist für uns so etwas wie der rote Teufelslappen bei der Tour de France. Das Zeichen zum Endspurt der Radtour. Noch eine kurze Strecke bis Berchtesgaden, ehe ein kleiner Waldweg abbiegt und der glasklaren Königsseer Ache folgt. Dann plötzlich Imbissbuden, Souvenirshops und Touristen aus Japan. Wir sind da.
Meine Freundin sagt später, sie könne sich im nächsten Jahr eine Alpenüberquerung vorstellen. Vielleicht kaufe ich ihr besser auch so einen Anhänger für die nächste Radtour.