Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier ein Outdoor-Unternehmen zu Hause ist. Das fade Gebäude in Les Glaisin, einem Gewerbegebiet im Alpen-Ort Annecy mit mehr als 500 Unternehmen, strahlt die gleiche Anonymität aus wie seine Nachbarn. Aber spätestens im Eingangsbereich, wo man plötzlich auf gepolstertem Boden mitten in einer kompletten Boulderhalle steht, verschwinden die Zweifel.
„Für viele französische Outdoor-Profis ist Bouldern eine der wichtigsten Trainingsformen. Wir locken sie mit unserer Kletterhalle hierher – und nicht selten ergibt sich daraus eine Zusammenarbeit“, sagt Julien Traverse, Mitgründer des Designstudios All Triangle, das hochfunktionale Schuhe für den Outdoor-Bereich entwickelt. Er führt mich durch die Räume und stellt mich einem Dutzend Mitarbeiter vor – jeder von ihnen beschäftigt mit einem bestimmten Schuh-Detail, das irgendwann das Laufen, Klettern oder Wandern ein bisschen leichter machen soll.

All Triangles wurde 2018 gegründet und hatte direkt einen fulminanten Start. The North Face plante ein Comeback im Ultra- und Berglaufbereich und engagierte das Studio aus Annecy für die Entwicklung einer neuen Modellreihe. Über zwei Jahre hinweg arbeitete man mit dem Designteam der Marke und einer Gruppe von Elite-Läufern zusammen. Im Frühjahr 2021 kam schließlich die Vectiv-Reihe auf den Mark – und schon bald gewannen Läufer mit der neu patentierten Sohlenkonstruktion an den Füßen die ersten Erfolge.
The North Face – Vectiv
“Seitdem haben wir mehreren internationalen Marken geholfen, neue Modelle zu entwickeln. Und immer wenn ein Läufer mit ‚unseren‘ Schuhen ein großes Rennen gewinnt, feiern wir hier im Atelier mit Champagner“, sagt Julien, der den Erfolg auch auf die Gemeinschaft hier zurückführt: “Wir können direkt vor Ort mit herausragenden Outdoor-Sportlern zusammenarbeiten. Dieser Austausch ist enorm wertvoll.“
Ein anderer Erfolgsaspekt ist der Fokus auf Nachhaltigkeit. „Wir haben immer zunächst die Ambition Produkte zu schaffen, die lange halten. Je langlebiger ein Schuh ist, desto weniger Paare muss man herstellen. Gleichzeit arbeiten daran, die Materialverschwendung Schuh zu begrenzen und verwenden immer die nachhaltigsten Materialien“, so Julien.

Cluster von Outdoor-Unternehmen
Es mag kein Zufall sein, dass eines der weltweit führenden Unternehmen für Outdoor-Design in Annecy ansässig ist. Strategisch günstig gelegen am großen Lac d’Annecy mit seinen umliegenden Berghängen und nur eine Stunde entfernt vom französischen Bergsport Mekka Chamonix, ist der Ort ein natürliches Basecamp für alle, die Aktivitäten wie Kajakfahren, Paragliding, Mountainbiking, Trailrunning und Klettern lieben. An verschiedenen Stellen am Rande der Stadt führt ein feinmaschiges Wegenetz in die Berge. In der Nähe befinden sich Ski- und MTB-Zentren wie La Clusaz.
Die Stadt hat etwa 130.000 Einwohner, weitere 50.000 leben in den umliegenden Dörfern. Es wäre falsch zu sagen, dass sie ganz von der Natur beherrscht wird; in den Gassen der alten Viertel sehen die Menschen ganz „normal“ aus. In den Parks am Seeufer hören Jugendliche laut Musik und rauchen Marihuana, während alte Männer unter den Bäumen Boule spielen. Aber die Zahl der fitten Jogger mit Trinkgürteln ist hoch. Niemand reagiert, wenn plötzlich wer mit einem SUP daherkommt. Und oben in den Bergen rund um die Stadt trifft man auf viele Wanderer und Läufer, die einen mit einem freundlichen „Salut!“ grüßen.

Aufwachen in Annecy
Annecy wird oft zu den Städten mit der höchsten Lebensqualität gezählt. Immer mehr Menschen ziehen hierher, vor allem gut ausgebildete und/oder wohlhabende, angezogen von der Nähe zum See, den Bergen und den Alpen. Aber das bedeutet nicht, dass Annecy sich zurücklehnen und alles so lassen kann, wie es ist, sagt Benjamin Marias. Er ist einer der Gründer von Air Coop, einer Genossenschaft von Nachhaltigkeitsberatern mit Büro in der Altstadt.
Viele der Berater von Air Coop haben eine Leidenschaft für die Natur. Die Wände des Büros sind mit alten Holzskiern und alten Rucksäcken geschmückt. Und jedes Jahr organisiert man gemeinsam ein Festival namens Outsiders Weekend, das Umweltschützer aus ganz Frankreich anzieht.
Air Coop wurde gegründet, um „eine blühende Gemeinschaft“ zu schaffen, wie es in ihrer Vision heißt. Benjamin und seine Kollegen waren und sind an fast allen Nachhaltigkeitsinitiativen der großen Outdoor-Unternehmen in Annecy beteiligt. Doch vor einigen Jahren wurde Benjamin Marias klar, dass er den Wandel mehr und schneller vorantreiben wollte. Er engagierte sich in der lokalen Bürger-Umwelt-Bewegung und ihrer politischen Partei Révellions Annecy (Wake up Annecy). Die Partei war bei den letzten Wahlen sehr erfolgreich und so ist Benjamin Marias seit 2020 stellvertretender Bürgermeister von Annecy.

„Ein Thema, für das wir uns wirklich eingesetzt haben – und das zu Ergebnissen geführt hat – ist die Verbesserung der Fahrradfreundlichkeit von Annecy und des öffentlichen Nahverkehrs. Heute ist Annecy die viertbeste Fahrradstadt Frankreichs und wir investieren massiv in den Ausbau des Bus- und Straßenbahnnetzes“, sagt Benjamin.
Zwei weitere Bereiche, in denen Révellions Annecy erfolgreich war, sind die Entscheidung, Annecy zu begrünen, indem jährlich etwa 400 Bäume gepflanzt und in Plätze und Spielplätze investiert wird. Und die deutliche Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien an der Heizung in Annecy.
Interessenkonflikte
An einem sonnigen Abend machen wir einen Lauf auf den Mont Veyrier am östlichen Stadtrand. Der Weg windet sich im Zickzack nach oben, und je höher wir kommen, desto schöner wird der Blick auf den See, die Stadt und die umliegenden Berge. Bei einer Pause zeigt Benjamin Marias jedoch in eine andere Richtung, nämlich in Richtung des Skigebiets von La Clusaz. Er erklärt, dass die Schneelage in den letzten Jahren so schlecht geworden ist, dass die Liftgesellschaft einen großen Damm bauen will, um Wasser für die Beschneiung zu sammeln. Zu diesem Zweck sollen Feuchtgebiete trockengelegt werden, die in einem Natura-2000-Gebiet mit besonders geschützter Flora und Fauna liegen. Das hat zu breiten Protesten geführt, unter anderem von den Umweltschützern von Extinction Rebellion, die sich in dem bedrohten Gebiet an Baumhäuser gekettet haben.
Sowohl als Politiker als auch bei der Unterstützung der Outdoor-Unternehmen von Annecy möchte Benjamin Marias das Bewusstsein schärfen: Das, was die Stadt zu einem großartigen Ort macht, ist auch bedroht.
„Der Klimawandel wirkt sich bereits in mehrfacher Hinsicht auf Annecy aus, und wir hatten noch nie einen so niedrigen Wasserstand im Annecy-See wie in diesem Sommer. Wir, die wir die Natur lieben, müssen uns bewusst machen, dass die Natur von allen Seiten unter Druck steht. Wie sollten wir handeln, damit Annecy auch für künftige Generationen ein großartiger Ort bleibt?“
Während wir auf den verschlungenen Pfaden des Mont Veyrier weiterlaufen, denke ich, dass nicht nur Annecy „réveillons“ – aufwachen – muss. Alle Städte und Gemeinden, die auf der globalen Outdoor-Landkarte prominent sein wollen, sollten sich die gleiche Frage stellen – und sie beantworten.
