Per Bike durch England, ohne einen geschlossenen Raum zu betreten. Bestsellerautor Stephan Orth wagt den pandemiebedingten Selbstversuch.
Der erste Gedanke lautet: Eine Tretkurbel bricht doch nicht einfach ab. Zweiter Gedanke: Scheiße. Dritter Gedanke: Das muss sich doch irgendwie befestigen lassen. Vierter Gedanke: So komme ich nie nach Newcastle. Fünfter Gedanke: Also gut. Schieben.
Eigentlich war es nicht meine Absicht, auf dieser Reise zu beweisen, dass ein aus der Psychologie bekanntes Fünf-Stufen-Modell der Trauer auch für Fahrradpannen gilt. Aber hier stehe ich am Rand einer Landstraße in der englischen Pampa neben Free Spirit, und exakt chronologisch laufen die Phasen Verleugnung, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz in meinem Kopf ab. Ausgelöst durch ein Unding, das in Fachsprache Sprödbruch, Trennbruch oder Ermüdungsbruch heißt: Die Tretkurbel mit dem rechten Pedal ist tatsächlich durch, ohne Vorwarnung trat ich plötzlich ins Leere, mit einem hässlichen Klackern fiel sie auf den Asphalt. Es ist schon Nachmittag, und 21 Kilometer Strecke liegen noch vor mir.
Aber fangen wir vorne an, beginnen wir mit Ben, oder noch besser, beginnen wir mit meinem etwas speziellen Reisekonzept. Fünf Wochen lang bin ich in England unterwegs, auf einer 700 Kilometer langen Route zwischen London und Newcastle. Für die Reise gilt eine Regel: Ich darf keine Innenräume betreten, keine Häuser, Supermärkte, Busse oder Bahnen. Weil gerade Pandemie ist und die meisten Infektionen in Räumen passieren. Und weil wir generell mehr draußen sein sollten und ein bisschen Minimalismus und Perspektivwechsel nie verkehrt sind.
Normalerweise ist Stephan Orth als Couchsurfer unterwegs. Er wohnt zu Hause bei Fremden und schreibt Bücher über seine Erlebnisse, die allesamt Bestseller wurden: »Couchsurfing im Iran«, »Couchsurfing in Russland«, »Couchsurfing in China«, »Couchsurfing in Saudi-Arabien«.
Soeben erschien „Absolutely ausgesperrt – wie ich 700 Kilometer durch England reiste und immer draußen blieb“, das mitten in der Pandemie auf der hier beschriebenen Reise entstand. Gibt’s auch bei Globetrotter …
Ganz schön was los auf Englands Straßen. Fahrradschieben ist leider öfter angesagt als geplant.
Das Rad mit der Bezeichnung »Free Spirit« stellt sich tatsächlich als ein wenig launig heraus. Einige Reifenpannen verlangsamen die Reise.
Zeltplätze finde ich häufig in den Gärten freundlicher Einheimischer. Eine fantastische Art der Unterkunft, social distancing ist da kein Problem.
Zunächst bin ich nach dem Start in London-Heathrow für zwei Wochen zu Fuß unterwegs. Dann treffe ich in Stratford-upon-Avon auf den Fliesenleger und Vollbartträger Ben, der nicht nur so nett ist, mir einen Zelt-Schlafplatz im Nachbargarten zu organisieren, sondern auch noch in der Scheune ein paar schrottreife Fahrräder herumstehen hat, vom Sperrmüll.
Zum Dank dafür, dass ich ihm beim Unkrautjäten helfe, bietet er mir an, eins der Räder herzurichten und mir zu schenken. Ein ziemlich altes schwarzes Mountainbike, Produktname »Free Spirit«. Passt zu deiner Reise, meint Ben. Einen ganzen Nachmittag verbringen wir damit, Bremsklötze zu justieren, Schläuche zu flicken und die Gangschaltung einzurichten. Letzteres klappt nur bedingt, am Ende funktionieren drei Gänge statt 21, aber immerhin. Ben schenkt mir noch eine Tasche für den Gepäckträger, was mir einiges Gewicht im Rucksack erspart. Das Zelt kann ich im Rahmen fixieren, um noch ein Kilo weniger auf dem Rücken zu haben. »Ab jetzt wirst du ein bisschen schneller vorwärtskommen als zu Fuß«, sagt mein Wohltäter.
Am nächsten Morgen bepacke ich das Rad, verabschiede mich und fahre voller Vorfreude… auf die A3400, ein abgasstinkendes, fahrradfeindliches, viel befahrenes Monstrum von einer Schmalspur-Schnellstraße, ohne einen Zentimeter Platz neben dem Seitenstreifen. Ein Rückspiegel nach dem anderen streift beinahe meinen Arm, manchmal staut sich der Verkehr hinter mir. Ein SUV-Fahrer hupt fünfmal, obwohl Fahrräder hier nicht verboten sind. Groß ist die Erleichterung, als ich endlich auf eine weniger befahrene Landstraße abbiegen kann.
Statt Stau und Stress gilt nun: Pures Genussradeln auf perfektem Asphalt. Mit durchschnittlich 14 Stundenkilometern rase ich vorwärts, bin dreimal so schnell wie zu Fuß. Auf einem Gefährt, das sein Besitzer auf den Müll geschmissen hatte, einem Fahrrad in zweiter Inkarnation, Recycling im Wortsinn.
Die größte Herausforderung meines Reiseexperiments ist, regelmäßig an Nahrung zu kommen. Supermärkte sind tabu, Wochenmärkte oder Feste mit Straßenständen viel seltener, als ich angenommen hatte. Die meisten Mahlzeiten bekomme ich in der Außengastronomie, zum Glück haben seit Corona viele Restaurants und Kneipen Sitzplätze an der frischen Luft. Die britische Regel, Essen und Getränke an der Bar zu ordern, umgehe ich mit Überredungskunst oder Apps, die eine Online-Bestellung ermöglichen. Wenn beides nichts hilft, ziehe ich eben weiter zum nächsten Biergarten. Es ist ein ungewohntes Gefühl, trotz zivilisierter Umgebung häufig für ein paar Stunden hungrig zu sein.
Eine Ausnahme gibt es bei meiner Draußen-Philosophie: Öffentliche Toiletten sind erlaubt. Zumindest dann, wenn ihr Eingang direkt von draußen zugänglich ist und ich auf dem Weg kein Restaurant und keine Shoppingmall durchqueren muss. Aber oft grabe ich mir auch ein Loch irgendwo in der Natur. Zum Baden nutze ich Flüsse oder Freibäder, ich schlafe im Wald, auf Campingplätzen oder in den Gärten freundlicher Menschen.
Tatsächlich, die Briten lassen mich in ihr Allerheiligstes, in ihre prachtvollen, akkurat gemähten, sorgfältig ummauerten Gärten. Gastgeber finde ich über die App »Warmshowers«, wo Fahrrad-Fans Schlafplätze für Gleichgesinnte zur Verfügung stellen. Gewöhnlich ist das eine Couch oder ein Bett, aber da manche Radreisende sowieso mit dem Zelt unterwegs sind, bieten einige Leute auch Campingplätze vor ihren Häusern an. Oft sorge ich für Irritation, wenn ich mein Reisekonzept erläutere, aber trotz mehrfach geäußerter Zweifel an meinem Geisteszustand und Anordnungen wie »Komm bloß nicht auf die Idee, in meinen Garten zu kacken«, lasse ich mich nicht beirren und bleibe tatsächlich die ganze Zeit draußen. Einige Gartenbesitzer erweisen sich als hochinteressante Gesprächspartner.
Da ist David aus Todmorden, der in einem alten Bauernhaus eine Öko-Kommune gegründet hat und versucht, mit einer Gruppe Gleichgesinnter maximal nachhaltig zu leben. Da ist Alan aus Hexham, der seit neun Jahren fast ununterbrochen im Zelt an einem Fluss wohnt und als Platzwart des lokalen Angelclubs sein Geld verdient. Da ist Maxine aus Acton, die im Wohnwagen lebt und einmal versuchte, nur von dem zu leben, was in 15 Kilometer Radius angebaut wird.
Ich treffe Menschen, die nach Alternativen zum üblichen Lebensstil suchen, die weniger Ressourcen verbrauchen als die Mehrheit. Ich hätte sie nie kennengelernt, wenn ich nicht selbst zeitweise zum Aussteiger geworden wäre.
Durch die Musik wurde ich vor Jahrzehnten zum größten England-Fan überhaupt. Erst Queen und die Smiths, später Britpop – die Kreativität auf der Insel schien damals grenzenlos zu sein.
Typisch englische Küche: Dieser Yorkshire Pudding mit Braten zählt noch zu den kulinarischen Highlights, häufig stehen weniger gesunde Dinge auf dem Speiseplan.
Große Freude bereiten Obstkörbe am Wegesrand. Frisches Obst ist sonst schwer zu bekommen, weil Märkte seltener sind als gedacht und ich keine Supermärkte betreten darf.
Nach einer Übernachtung im Wald bei Great Haywood, etwa 50 Kilometer nördlich von Birmingham, habe ich einen Platten. Was blöd ist, denn Ben hat mir zwar eine Luftpumpe mitgegeben, aber kein Flickzeug. Und das gibt es leider normalerweise nur in Innenräumen zu kaufen. Ich pumpe den Reifen auf, fahre ein paar Hundert Meter und pumpe dann wieder, bis ich eine Stunde später endlich einen Fahrradladen finde. Der Mitarbeiter verkauft mir einen neuen Schlauch an der Türschwelle, nachdem ich ihm eine Quatschgeschichte erzählt habe, dass ich wegen einer verlorenen Wette fünf Wochen lang keine Räume betreten dürfe. Am selben Nachmittag passiert die Sache mit der Tretkurbel. Was für ein Pechtag. Zumindest bergab kann ich mich aufs Rad setzen und rollen lassen, aber ansonsten muss ich 20 Kilometer schieben und am nächsten Tag noch einmal 20, bis ich endlich den nächsten Bike Shop erreiche.
Abenteuerideen zu verschenken: Fahrradschieben zum Südpol. Fahrradschieben durch die USA. Fahrradschieben von Kiel bis Passau. Fahrradschieben auf den Kilimandscharo.
Ein heldenhafter Fahrradschrauber findet ein Ersatzteil im Lager und erweckt Free Spirit wieder zum Leben. Ab jetzt funktioniert nur noch ein Gang, aber immerhin kann ich wieder fahren. Am Straßenrand sehe ich ein Werbeschild für ein Fahrradevent, »100 Miles of Blood, Sweat and Gears«, und ich muss schmunzeln, denn ich komme auf weit über hundert Meilen, obwohl »Gears« bei mir im Plural nicht mehr zutrifft.
Ein heldenhafter Fahrradschrauber findet ein Ersatzteil im Lager und erweckt Free Spirit wieder zum Leben. Ab jetzt funktioniert nur noch ein Gang, aber immerhin kann ich wieder fahren. Am Straßenrand sehe ich ein Werbeschild für ein Fahrradevent, »100 Miles of Blood, Sweat and Gears«, und ich muss schmunzeln, denn ich komme auf weit über hundert Meilen, obwohl »Gears« bei mir im Plural nicht mehr zutrifft.
Anstrengend ist das schon. Und aus orthopädischer Sicht suboptimal, da ich immer mit Rucksack auf dem Rücken fahre. Nach fast 400 gemeinsamen Kilometern setze ich Free Spirit auf einer Brücke in Middleton-in-Teesdale aus. An den Rahmen klebe ich einen Zettel: »Dies ist ein besonderes Fahrrad, das mir ein wunderbarer Mensch geschenkt hat. Die Gangschaltung funktioniert nicht, und die meisten Teile sind alt, trotzdem konnte ich Hunderte Meilen damit reisen. Jetzt möchte ich das Rad weitergeben. Wenn du eins brauchst, nimm es mit. Und schreib mir gerne eine Nachricht, was daraus geworden ist. Instagram: @stephan_orth.«
Einen großen Teil der Strecke lege ich am Ufer von Kanälen zurück. Dort sehe ich zahllose Hausboote und lerne einige ihrer Bewohner kennen.
Das Draußensein tut gut: Nach Monaten des Daheimsitzens wegen der Pandemie fühle ich mich mit jeder Woche unterwegs lebendiger.
Kann man wegen eines Gebrauchsgegenstandes aus Stahl und Gummi und Schrauben so etwas wie Abschiedsschmerz empfinden? Man kann. Einen besseren Reisebegleiter als dieses altersschwache, charakterstarke Rad hätte ich mir nicht vorstellen können.
Am nächsten Tag bekomme ich eine Nachricht von einem Mann namens Jack, sein Profilfoto zeigt ihn auf einem Traktor. »Thx for the bike«, schreibt er. Kein Ausrufezeichen, kein Smiley dazu. Nach allem, was das Rad und ich durchgemacht haben, bin ich enttäuscht von dieser emotionsarmen Kurznachricht. Aber was hatte ich erwartet? Etwa tägliche Foto-Homestorys mit Free Spirit im Wald, Free Spirit vor dem Hühnerstall, Free Spirit zwischen glücklichen spielenden Kindern? Okay, ich gebe es zu: Ja, heimlich hatte ich genau darauf gehofft.
TEXT: Stephan Orth
FOTOS: Oli Scarff und Stephan Orth