Geburtstag in Oberbayern
Schuster, bleib bei deinen Leisten – dass ein mit Hingabe zelebriertes Kerngeschäft kein Nachteil ist, beweist die Geschichte von Lorenz Wagner, der vor exakt hundert Jahren den weltweiten Siegeszug der Schuhmarke Lowa einläutete.

Es waren einmal drei Brüder: Lorenz, Hans und Adolf Wagner. Sie lebten vor mehr als hundert Jahren im bayerischen Jetzendorf an der Ilm, erlernten das Schusterhandwerk von ihrem Vater Johann und schrieben danach Alpinschuh-Geschichte – als Gründer der Marken Lowa, Hanwag und Hochland.
Der Vater war nicht nur Schuhmacher, sondern auch Musiker. Seine Söhne waren bald ebenfalls mit von der Partie. Und so spielte die Wagnerische Kapelle auf – je nach Anlass schwungvolle Volksmusik oder getragene Kirchenmusik. Lorenz Wagner beschrieb später, wie die Musik ihm den Aufbau seiner Schusterwerkstatt ermöglichte: »Es war damals Brauch, dass ein Landschuster auch gleichzeitig Musiker war. Ich spielte bei Hochzeiten und sonstigen Anlässen, verdiente eine hübsche Summe Geld und erwarb mir damit die allernotwendigsten Maschinen.«
Lorenz’ Brüder ließen sich ebenfalls als selbstständige Schuhmacher nieder. Hans Wagner machte 1921 den Anfang und ging nach Vierkirchen, sein Bruder Adolf nach Weichs, beide Orte liegen etwa zehn Kilometer von Jetzendorf entfernt. Hans Wagner lieferte Schuhe für eine Münchner Firma und produzierte bald eigene Bund- und Haferlschuhe. Er vergrößerte seinen Betrieb ständig und vermarktete seine Schuhe ab 1952 unter dem Namen HAN(s) WAG(ner). Der »Bruderfirma« ist LO(renz) WA(gner) bis heute in freundschaftlicher Konkurrenz verbunden.
Adolf Wagner, der jüngste der Brüder, heiratete 1923 nach Weichs, übernahm die dortige Schuhreparaturwerkstätte und entwickelte sie zu einer Schuhfabrik mit 30 Beschäftigten. Ebenso wie seine Brüder produzierte er in der Kriegszeit Gebirgsjägerstiefel. Im Anschluss gelang der Neuanfang unter dem Markennamen Hochland.
Liebe in Krisenzeiten
Die Parallelen zu den Karrieren seiner Brüder sind nicht zu übersehen: Lorenz Wagner, geboren 1893, übernahm als ältester Sohn 1923 das Anwesen seiner Eltern in Jetzendorf. Dazu gehörten etwas Grund und die Landschusterei seines Vaters Johann. Erfolg stellte sich ein: 1925 beschäftigte Lorenz Wagner in seiner »Ilmtaler Sportschuhfabrik« zwei Mitarbeitende, 1930 waren es bereits sieben.
Ab Februar 1930 arbeitete ein tüchtiger Lehrling namens Josef Lederer – genannt Sepp – im Betrieb mit. Er erzählte später: »Im Dachgeschoss waren die Schuhmacher untergebracht, auch ich war als Lehrling dabei. Verpflegt wurden alle – auch die, die im Ort wohnten – im Hause. Das Essen war Bestandteil des Lohns. Als Lehrling musste man Lehrgeld bezahlen – dafür durfte ich meiner späteren Frau die Schuhe putzen.« Ob er es damals schon ahnte?
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs musste Lorenz Wagner seine »Werkstatt« neu organisieren. Aus der Ilmtaler Sportschuhfabrik wurde Lowa – so wie damals üblich gebildet aus den Anfangsbuchstaben des Namens. Auch wenn der Bedarf an Schuhen in der Nachkriegszeit groß war – die Konkurrenz war es auch. Nicht nur die Brüder in Weichs und Vierkirchen, auch andere Schuhfabriken in und um München behaupteten sich auf dem Markt.
Anfang der 1950er-Jahre war wenig Material und noch weniger Geld vorhanden. Die Korea-Krise verstärkte diese Entwicklung. Der wichtige Rohstoff Leder wurde knapp und zu sehr hohen Preisen gehandelt. Lorenz Wagner kaufte damals Leder im großen Stil. Sepp Lederer, der den Betrieb nach seiner Lehre verlassen hatte, aber 15 Jahre später als Betriebsleiter zurückgekehrt war, erklärte diese Kaufentscheidung Wagners später in einem Interview: »Einige tüchtige Geschäftsleute haben das ausgenutzt und sagten: Kauft, kauft, das wird jetzt dann nur noch teurer! Ein halbes Jahr später war der Korea-Spuk vorbei – und die Lederpreise purzelten in den Keller. 1950/51 war das, und wir bekamen eines Tages von der Sparkasse kein Geld mehr.« Lowa stand kurz vor der Pleite.



Die anderen 3,2 Millionen kommen aus derSlowakei und Italien – alles »made in Europe« also.
Ein Plan zur Rettung der Schuhfabrik wurde gebraucht und glücklicherweise hatte Lorenz Wagner die richtige Frau und den richtigen Mann dafür bereits in der Firma: seine Tochter Berta (Berti), inzwischen kaufmännische Leiterin, und Sepp Lederer, der erst kurz zuvor aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und seine neuerliche Anstellung zunächst eher als Wiedereingliederung in die Gesellschaft begriff.
Es war eine anstrengende Zeit. Berti schilderte später, dass die Insolvenz jeden Monat von Neuem drohte. Doch die gemeinsame Bewältigung der Herausforderungen gelang – und brachte Berti und Sepp einander näher. Die beiden heirateten im Juli 1952.
Lorenz Wagner erlebte diese dramatischen Ereignisse in seinem letzten Lebensjahr. Er starb 1953 im Alter von 60 Jahren. Berti erinnerte sich Jahrzehnte später: »Sepp und ich gingen hinter dem Sarg Richtung Friedhof und wir waren überwältigt von der Anteilnahme. Spontan drückte Sepp meinen Arm und sagte mit einem Blick auf die vollzählig erschienenen Mitarbeiter: Wir können unmöglich schließen, wir machen weiter!«
Auf den höchsten Bergen der Welt
Mitte der 1950er-Jahre war die Krise endlich überwunden. Lowa beendete die Produktion von Straßen- und Haferlschuhen und konzentrierte sich auf hochwertige Berg- und Skischuhe. Es gab erste Marketingaktionen, Prospekte wurden gedruckt und Messen besucht. Bekannt wurde Lowa in dieser Zeit auch durch die Ausstattung vieler Hochgebirgsexpeditionen. Internationale Bergsteiger besuchten den Schuhhersteller im bayerischen Jetzendorf, um sich beraten zu lassen und maßgeschneiderte Schuhe in Auftrag zu geben. Die goldene Zeit der »Bergschuhe und Skischuhe mit Pfiff« begann – und dauerte viele Jahrzehnte an.
Sepp Lederer zog sich im Jahr 1988 aus der Geschäftsleitung zurück. Sohn Stefan übernahm gemeinsam mit Berti die Führung. Er entwickelte die neue Generation der leichten Bergschuhe weiter, die seit einigen Jahren den Markt als outdoortaugliche Konkurrenz zum Turnschuh eroberten. Die Skischuhe dagegen wurden immer aufwendiger in der Produktion. Zudem vermiesten die warmen Winter die Bilanz: Der Februar 1990 ging mit einer Rekord-Durchschnittstemperatur von 5,74 Grad in die Geschichtsbücher ein.
»Die Füße sind unsere Verbindung zur Erde. Darum ist der Schuh das elementarste Kleidungsstück.«
Alexander Nicolai, CEO LOWA
Aufgrund solcher Marktveränderungen geriet Lowa erneut in Schieflage. Wieder bestimmten die Banken über das Schicksal der Firma. In dieser Zeit kam Werner Riethmann zu Lowa. Er war zuvor Geschäftsführer beim Schweizer Schuhhersteller Raichle. Die Erzählungen über diese Zeit des Umbruchs muten teilweise abenteuerlich an. Im Lager hätten Berge von ungenutztem Material gelegen, verrät Riethmann. Er machte aus dieser Not eine Tugend, stoppte den Materialeinkauf und verwandelte den Überhang in Schuhe. Parallel zu seinem erfolgreichen Wirken war der Verkauf von Lowa eingeleitet worden. Es gab mehrere Interessenten, schließlich setzte sich als Käufer die italienische Firma Tecnica durch. Das Familienunternehmen war zu einer ähnlichen Zeit und mit ähnlichen Produkten wie Lowa entstanden. Es hatte sich ab 1930 aus einer kleinen italienischen Schusterwerkstatt entwickelt. Der heutige Senior der Familie, Giancarlo Zanatta, arbeitete bereits als Jugendlicher in der Werkstatt seines Vaters.
Mit dem Kauf der Mehrheitsanteile sicherte sich Tecnica eine wichtige Stellung innerhalb des Alpinschuhmarkts. Weitere Anteile erwarb Werner Riethmann. Die Zusammenarbeit stand von Beginn an unter einem guten Stern. Die Mitarbeitenden waren nach dem Verkauf trotzdem unsicher. Wie geht es längerfristig weiter? Bleibt Lowa in Jetzendorf? Wird Tecnica das Produktangebot verändern? Doch das neue Führungsteam zeigte bald: Lowa bleibt eine Bergschuhfabrik und Lowa bleibt in Jetzendorf.
Mittlerweile hat Riethmann den Staffelstab an Alexander Nicolai übergeben. Seine Vorstellungen sind so klar wie die Fußstapfen seines Vorgängers groß. »Wir sind eine Produktmarke. Und durch den Kauf unseres Fertigungspartners sind wir auch zu einer Produktionsmarke geworden. Qualität über die gesamte Wertschöpfungskette – da kommen wir her, da sind wir zuhause. Aber für die Zukunft braucht es mehr als das. Der Konsument erwartet ein Gesamtpaket aus Produktqualität, Markenerlebnis, spannender Kommunikation, aber auch Themen wie Kundenservice und Nachhaltigkeit.« Letzteres ist schon immer zentrales Thema für eine Firma, die sich dem Naturerlebnis verschrieben hat. »Der Kunde möchte wissen, wo die Produkte von wem wie hergestellt werden. Mit unserer eigenen Produktion in der Slowakei können wir das absolut transparent darlegen. Inzwischen sind diese Kunden auch dazu bereit, für ein nachhaltiges Produkt einen angemessenen Mehrpreis zu zahlen.«
Im Laufe der Jahrzehnte eilte Lowa mit großen Schritten von Erfolg zu Erfolg: eine Million Paar Schuhe im Jahr 2000. Die Zwei-Millionen-Marke fiel 2010. Und 2023, zum 100-Jährigen, werden es über drei Millionen. Aber das, so Nicolai, ist nicht das Hauptziel allen Strebens. »Unser Ziel ist Relevanz. Wir müssen es schaffen, relevante Produkte anzubieten, die einen Wert und ein Erlebnis offerieren. Das ist unsere Mission. Am Ende des Tages zählt immer das Erlebnis.«